Das Bundesverfassungsgericht hat am 08.12.2021 zum Aktenzeichen 2 BvL 1/13 entschieden, dass eine auf Gewinneinkünfte beschränkte Begrenzung des Einkommensteuertarifs durch Regelungen im Steueränderungsgesetz 2007 und im Jahressteuergesetz 2007 mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar ist.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 2/2022 vom 12.01.2022 ergibt sich:
Die Vorschriften bewirken eine nicht gerechtfertigte Begünstigung von Gewinneinkünften gegenüber den Überschusseinkünften. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens bis zum 31. Dezember 2022 rückwirkend für das Veranlagungsjahr 2007 eine Neuregelung zu treffen.
Sachverhalt:
Durch das Steueränderungsgesetz 2007 wurde für Einkünfte über 250.000 Euro (Einzelveranlagung) beziehungsweise 500.000 Euro (Zusammenveranlagung von Ehegatten) der Spitzensteuersatz ab dem Jahr 2007 von 42 % auf 45 % erhöht (§ 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 des Einkommensteuergesetzes). Von der Erhöhung wurden Gewinneinkünfte (zum Beispiel Einkünfte aus Gewerbebetrieb) für das Jahr 2007 ausgenommen (§ 32c des Einkommensteuergesetzes), sodass der Spitzensteuersatz von 45 % nur Bezieher von Überschusseinkünften (zum Beispiel Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit) traf. Zur Begründung führte der Gesetzgeber zum einen an, Gewinneinkünfte seien mit einem spezifisch unternehmerischen Risiko verbunden. Zum anderen wollte er mit der Entlastung der Gewinneinkünfte dem Umstand Rechnung tragen, dass für 2008 eine umfassende Unternehmenssteuerreform geplant war. Er sah vor diesem Hintergrund eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auch für unternehmerische Einkünfte als das falsche Signal und zudem mit negativen ökonomischen Folgen verbunden an. Durch das Jahressteuergesetz 2007 erfolgten weitere Anpassungen des Einkommensteuergesetzes zur Beschränkung des Steuersatzes für Gewinneinkünfte auf 42 %.
Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind Ehegatten und wurden für den Veranlagungszeitraum 2007 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte als Geschäftsführer einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von mehr als 1,5 Millionen Euro. Insoweit berücksichtigte das Finanzamt bei der Einkommensteuerfestsetzung den Spitzensteuersatz von 45 %.
Mit ihrer nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage vor dem Finanzgericht haben die Kläger geltend gemacht, die Benachteiligung der Überschusseinkünfte gegenüber den Gewinneinkünften verstoße gegen das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Das Finanzgericht Düsseldorf hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob eine auf Gewinneinkünfte beschränkte Begrenzung des Einkommensteuertarifs für das Jahr 2007 mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
- 32c EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2007 und des Jahressteuergesetzes 2007 in Verbindung mit § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2007 ist mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar.
- Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Dem Steuergesetzgeber belässt Art. 3 Abs. 1 GG insbesondere bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weit reichenden Entscheidungsspielraum. Der Gleichheitssatz bindet ihn aber an den Grundsatz der Steuergerechtigkeit. Dieser gebietet, die Belastung mit Finanzzwecksteuern an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auszurichten.
- a) Bei der Einkommenssteuer liegt die konkrete Ausgestaltung eines für alle Einkünfte geltenden Tarifs grundsätzlich im Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers. Wählt der Gesetzgeber indes für verschiedene Arten von Einkünften unterschiedliche Tarifverläufe, obwohl die Einkünfte nach der gesetzgeberischen Ausgangsentscheidung die gleiche Leistungsfähigkeit repräsentieren, muss diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein.
- b) Ein Rechtfertigungsgrund kann in der Verfolgung von Förderungs- oder Lenkungszwecken liegen. Der Gesetzgeber ist grundsätzlich nicht gehindert, mit Hilfe des Steuerrechts aus Gründen des Gemeinwohls außerfiskalische Förder- und Lenkungsziele zu verfolgen. Förderungs- und Lenkungsziele sind allerdings nur dann geeignet, rechtfertigende Gründe für steuerliche Be- oder Entlastungen zu liefern, wenn entweder Ziel und Grenze der Lenkung mit hinreichender Bestimmtheit tatbestandlich vorgezeichnet sind oder das angestrebte Förderungs- oder Lenkungsziel jedenfalls von einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen wird. Die gesetzgeberische Entscheidung für Förderungs- oder Lenkungszwecke muss hinreichend bestimmt sein. In den Gesetzesmaterialien genannte lediglich vage Zielsetzungen genügen für sich genommen nicht, um Abweichungen von einer leistungsgerechten Besteuerung zu rechtfertigen.
- Nach diesen Maßstäben ist die verfahrensgegenständliche Privilegierung der Gewinneinkünfte mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar.
- a) Die Vorschriften bewirken eine Ungleichbehandlung von Gewinn- und Überschusseinkünften. Während die Bezieher von Überschusseinkünften über 250.000 Euro (Einzelveranlagung) beziehungsweise über 500.000 Euro (Zusammenveranlagung von Ehegatten) im Jahr 2007 einem Steuersatz von 45 % unterlagen, war für die Bezieher von Gewinneinkünften der Höchstsatz auf 42 % begrenzt.
- b) Diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt.
- aa) Das vom Gesetzgeber für die Ungleichbehandlung herangezogene spezifische unternehmerische Risiko ist kein sachlich einleuchtender Grund für die erfolgte Differenzierung zwischen Gewinn- und Überschusseinkünften. Zwar tragen die Bezieher von Gewinneinkünften ein Unternehmerrisiko. Das spezifische Unternehmerrisiko des Gewerbetreibenden bietet aber ebenso wie das Unternehmerrisiko eines selbständigen Land- und Forstwirts oder eines freiberuflich tätigen Selbständigen keine Anhaltspunkte für die Annahme, die Erwirtschaftung gleicher Zahlungsfähigkeit sei Ausdruck einer geringeren Leistungsfähigkeit. Risiken bei der Einkünfteerzielung können gleichermaßen bei den Überschusseinkünften entstehen, etwa bei Kapital- oder Vermietungseinkünften und – aufgrund unsicherer Arbeitsmarktlage – selbst bei Lohneinkünften. Es kommt hinzu, dass ein Unternehmerrisiko im Einkommensteuerrecht grundsätzlich erst, aber auch immer dann steuermindernd berücksichtigt wird, wenn es sich realisiert hat. Denn bei einem geringeren oder fehlenden Gewinn ist eine niedrigere oder gar keine Einkommensteuer zu entrichten. Hingegen bleibt im Einkommensteuerrecht das nur abstrakte unternehmerische Risiko – ebenso wie nur abstrakte besondere unternehmerische Chancen – außen vor. Entscheidend ist das tatsächlich aus einer Tätigkeit Erwirtschaftete.
- bb) Soweit der Gesetzgeber mit der Privilegierung der Gewinneinkünfte dem Umstand Rechnung tragen wollte, dass für das Jahr 2008 eine umfassende Unternehmenssteuerreform geplant war, fehlt es an einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung für einen hinreichend bestimmten Förderungs- oder Lenkungszweck.
Das vom Gesetzgeber genannte Ziel hat keinen Niederschlag im Tatbestand von § 32c EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2007 gefunden. Warum Gewinneinkünfte privilegiert werden sollen, ergibt sich aus der Norm nicht. Die Gesetzesmaterialien verweisen zwar auf die geplante Unternehmenssteuerreform, lassen aber ebenfalls offen, welches Ziel der Gesetzgeber damit verfolgen wollte. Aus ihnen lässt sich nur entnehmen, dass eine Entlastung unternehmerischer Einkünfte beabsichtigt war. Sie lassen weder erkennen, aus welchem Grund der Gesetzgeber eine Entlastung anstrebte, noch, welcher Art diese sein und welches Ausmaß sie haben sollte. Details einer im Rahmen der Unternehmenssteuerreform geplanten Entlastungsregelung waren zum damaligen Zeitpunkt noch nicht ausgearbeitet. Es gab weder einen Gesetzentwurf, der in den Bundestag eingebracht worden wäre, noch auch nur einen Regierungsentwurf, der vom Bundestag mit der Gesetzesbegründung stillschweigend hätte in Bezug genommen werden können.
Lediglich die Koalitionsvereinbarung aus dem Jahr 2005 zeigte bei Erlass des Steueränderungsgesetzes 2007 die Grundtendenz der geplanten Unternehmenssteuerreform auf. Dort hatten die Regierungsparteien ihre Absicht zum Ausdruck gebracht, durch eine Reform des Unternehmenssteuerrechts das Steuerrecht zu vereinfachen und international wettbewerbsfähig zu gestalten, um die Steuerbasis in Deutschland zu sichern, Investitionsanreize zu setzen und so neue Arbeitsplätze zu schaffen sowie das wirtschaftliche Wachstum insgesamt zu beleben. Die Reform sollte neben den Körperschaften auch die Personenunternehmen erfassen, da deutsche Unternehmen zu mehr als 80 % in dieser Rechtsform organisiert seien. Die Koalitionsvereinbarung erläutert damit zwar, warum der Gesetzgeber eine Entlastung unternehmerischer Einkünfte anstrebte. Sie lässt jedoch offen, welcher Art diese Entlastung sein und welches Ausmaß sie haben sollte. Schon deshalb scheidet sie zur näheren Konkretisierung eines mit dem Steueränderungsgesetz 2007 erkennbar verfolgten Förderungs- und Lenkungszwecks aus. Der Senat hat vor diesem Hintergrund offengelassen, ob Koalitionsvereinbarungen zwischen politischen Parteien für sich genommen überhaupt geeignet sind, die hinreichende Bestimmtheit einer gesetzgeberischen Entscheidung für Förderungs- oder Lenkungszwecke einer steuerlichen Maßnahme zu gewährleisten.
Eine erkennbare gesetzgeberische Entscheidung folgt auch nicht aus dem sogenannten Eckpunktepapier des Bundeskabinetts für eine Reform der Unternehmensbesteuerung vom 12. Juli 2006. Der Beschluss des Bundeskabinetts zu den Eckpunkten der geplanten Unternehmenssteuerreform ist erst nach der Verabschiedung des Steueränderungsgesetzes 2007 durch den Beschluss des Bundestages vom 29. Juni 2006 und die Zustimmung des Bundesrates am 7. Juli 2006 gefasst worden. Im Übrigen ließ auch das Eckpunktepapier zentrale Fragen der Unternehmenssteuerreform offen.