Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Beschluss vom 6. Mai 2022 zum Aktenzeichen 9 Ta 18/22 entschieden, ob ein „freiberuflich“ angestellter Praxisvertreters, der selbst die Steuern und Sozialbeiträge abführen sollte, Arbeitnehmer ist.
Arbeitnehmer sind nach § 5 Abs. 1 Satz 1 ArbGG Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten. Die Arbeitnehmereigenschaft eines Klägers setzt nach § 611a Abs. 1 BGB voraus, dass er im Dienste der beklagten Partei zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet war. Dies ist aufgrund einer Gesamtbetrachtung aller Umstände festzustellen. Dabei ist es weder erforderlich, dass alle den Typus „Arbeitsvertrag“ kennzeichnenden Merkmale vorliegen, noch gibt es ein Einzelmerkmal, das aus der Vielzahl möglicher Merkmale unverzichtbar vorliegen muss, damit man von persönlicher Abhängigkeit sprechen kann. Dogmatischer Ausgangspunkt ist insoweit nicht ein tatbestandlich scharf umrissener Arbeitnehmerbegriff, sondern eine typologische Bestimmung des Arbeitnehmers.
Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass der Kläger nach der Vereinbarung der Parteien nicht als angestellter Arzt, sondern „freiberuflich“ tätig werden und selbst die Steuern und Sozialbeiträge abführen sollte. Denn zwingende gesetzliche Regelungen für Arbeitsverhältnisse können nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht dadurch abbedungen werden, dass die Parteien ihrem Arbeitsverhältnis eine andere Bezeichnung geben. Widersprechen sich Vereinbarung und tatsächliche Durchführung, ist letztere maßgebend, weil sich aus der praktischen Handhabung der Vertragsbeziehungen am ehesten Rückschlüsse darauf ziehen lassen, von welchen Rechten und Pflichten die Vertragspartner ausgegangen sind, was sie also wirklich gewollt haben.
Inwieweit sich aus der praktischen Handhabung der Vertragsbeziehungen eine persönliche Abhängigkeit ergibt, hängt zunächst wesentlich von der Eigenart der Tätigkeit, von dem rechtlichen Umfeld, in dem die Tätigkeit erfolgt, sowie in gewissem Maße von der Verkehrsanschauung ab.
Für die arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Einordnung einer Praxisvertretung bietet das (Kassen-) Arztrecht allerdings wenig Anhaltspunkte. § 32 Abs. 1 der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) bestimmt, dass ein Vertragsarzt die vertragsärztliche Tätigkeit persönlich in freier Praxis auszuüben hat und sich bei Krankheit, Urlaub oder Teilnahme an ärztlicher Fortbildung oder an einer Wehrübung sich innerhalb von zwölf Monaten bis zur Dauer von drei Monaten vertreten lassen kann. Diese Vertretung ist durch einen anderen Vertragsarzt oder durch einen Arzt zulässig, der die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Ärzte-ZV für die Eintragung in das Arztregister der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung erfüllt. Der Praxisvertreter muss daher nicht zwingend selbst ein Vertragsarzt sein. Vielmehr können auch Privatärzte, Ärzte im Ruhestand, Honorarärzte oder angestellte Ärzte eine Praxisvertretung übernehmen. Auch § 14 des Bundesmantelvertrags–Ärzte (BMV-Ä) trifft keine Aussagen zur arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Stellung von Vertretungsärzten, sondern konkretisiert die Pflichten des Vertretenen bei Einsatz und Überwachung von Vertretungsärzten.
Ebenso wenig lässt sich eine feste Verkehrsanschauung hinsichtlich des arbeitsrechtlichen Status von Vertretungsärzten feststellen. Das traditionelle Bild von der Tätigkeit eines Honorararztes, wie es auch den Parteien bei Abschluss ihres Vertrages vorschwebte, war noch weitgehend von der älteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts geprägt, wonach es zur Bejahung einer selbstständigen Tätigkeit des Vertreters ausreichte, dass er keinen Beschränkungen unterlag, die über die Verpflichtung zur Benutzung der Praxisräume, zur Einhaltung der Sprechstunden und zur Abrechnung im Namen des Praxisinhabers hinausgingen. Eine solche generelle Einordnung der honorarärztlichen Tätigkeit ist heute aber selbst nach Einschätzung der Ärzteschaft nicht mehr angezeigt.
Die Rechtsprechung hat vielmehr im Rahmen zahlreicher Einzelfallentscheidungen Kriterien zur Annahme einer selbstständigen Tätigkeit im Gesundheitswesen herausgearbeitet. Wichtige Gesichtspunkte sind danach: die freie Zeiteinteilung, der Einsatz eigener Betriebsmittel, eigene Angestellte, das Tragen von unternehmerischem Risiko, sowie die Möglichkeit, aus den erzielten Honoraren eine eigene Altersversorgung aufzubauen.
Bezogen auf den vorliegenden Fall sind folgende Feststellungen zu treffen, die bei der gebotenen Gesamtbetrachtung für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses sprechen:
Gemäß den vertraglichen Vereinbarungen war der Kläger nicht berechtigt, seine Arbeitszeiten frei einzuteilen. Sie waren ihm detailliert einschließlich der Lage und Dauer der Pausen für insgesamt vier Arbeitstage/Woche vorgegeben. Dies bedeutet zwar, dass die Beklagte die Arbeitspflicht des Klägers nicht in Ausübung eines Weisungsrechts in zeitlicher Hinsicht weiter hätte konkretisieren dürfen. Wichtiger ist jedoch, dass auch der Kläger aufgrund der Vereinbarung nicht mehr im Sinne des § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB berechtigt war, seine Arbeitszeit zu bestimmen.
Von Bedeutung ist zudem, dass der Kläger aufgrund der vertraglich festgelegten Arbeitszeiten faktisch nicht die Möglichkeit hatte, in beachtlichem Umfang für weitere Auftraggeber tätig zu sein und dementsprechend werbend am Markt aufzutreten. Das aber wäre ein typisches Merkmal für eine selbstständige Tätigkeit. Für weitere ärztliche oder sonstige berufliche Tätigkeiten hätten dem Kläger nur der Freitag und das Wochenende zur Verfügung gestanden.
Dass der Kläger innerhalb der vereinbarten Arbeitszeiten aufgrund der Abwesenheit der Beklagten seinen medizinischen Auftrag nach eigenem Ermessen gestalten konnte, im Wesentlichen keinen Einzelanweisungen der Beklagten unterlag und IGEL-Verträge und -Rezepte nach eigener Entscheidung ausgegeben bzw. abgeschlossen hatte, liegt an der Eigenart der ärztlichen Praxisvertretung und spricht nicht gegen das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses. Denn Ärzte handeln bei medizinischen Heilbehandlungen und Therapien grundsätzlich frei und eigenverantwortlich. Hieraus kann nicht auf eine selbstständige Tätigkeit geschlossen werden. Insbesondere bei Hochqualifizierten oder Spezialisten kann das Weisungsrecht aufs Stärkste eingeschränkt sein.
Von Bedeutung ist hingegen, dass der Kläger über keine eigenen Betriebsmittel verfügte, sondern die Einrichtungen und Betriebsmittel der Praxis nutzte. Auch wenn dies nicht zwingend eine abhängige Beschäftigung begründet und der Kläger nach dem Vortrag der Beklagten die Arbeitszeiten der Mitarbeiter geändert, Möbel umgeräumt und sich als „Chef“ geriert hat, ist doch festzustellen, dass der Kläger in die Arbeitsabläufe der Praxis voll eingegliedert war. Er arbeitete arbeitsteilig mit dem von der Beklagten angestellten Praxispersonal zusammen, war auf dessen Hilfestellung zwingend angewiesen und musste diesem fachliche Weisungen erteilen. Die Tätigkeit des Klägers war damit von der Praxis der Beklagten geprägt, in deren Dienst er seine Arbeit verrichtete. Seine Arbeitsleistung war insoweit fremdbestimmt, weil sie sich als funktionsgerechte, dienende Teilhabe am Arbeitsprozess darstellte.
Dass die Parteien keine Regelungen zu Entgeltfortzahlung und Urlaub getroffen haben, ändert an der Unselbstständigkeit der klägerischen Tätigkeit nichts. Denn entsprechende Ansprüche wären die Rechtsfolge einer unselbstständigen Beschäftigung als Arbeitnehmer und könnten nicht umgekehrt den Status des Klägers als Freiberufler begründen.
Gleiches gilt für den Umstand, dass der Kläger eine eigene Berufshaftpflichtversicherung abschließen musste. Diese Verpflichtung wurzelt nicht in der Selbständigkeit einer ärztlichen Tätigkeit, sondern ist berufsrechtlicher Natur. Ärzte sind seit jeher verpflichtet, sich hinreichend gegen Haftpflichtansprüche im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit zu versichern (vgl. etwa § 21 der Berufsordnung für die nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte – BO). Ohnehin handelt es sich bei der Berufshaftpflichtversicherung nur um einen Aspekt, der die ärztliche Tätigkeit nicht entscheidend prägt.
Entscheidend für ein Arbeitsverhältnis spricht schließlich, dass der Kläger kein nennenswertes unternehmerisches Risiko trug, wie es für Selbstständige typisch ist. Zu einer erforderlichen eigenverantwortlichen Gestaltung der ärztlichen Tätigkeit gehört es nämlich, dass der Arzt ein wirtschaftliches Risiko trägt. Es muss maßgebend von seiner Arbeitskraft abhängen, in welchem Umfang seine freiberufliche Tätigkeit Einkünfte erbringt. Der Kläger hingegen erhielt seine Vergütung von der Beklagten. Eine Abrechnung gegenüber den behandelten Patienten oder deren Kostenträgern nahm nicht er, sondern ausschließlich die Beklagte vor. Dass der Kläger hälftig an den sog. IGEL-Leistungen beteiligt war, fällt demgegenüber nicht ins Gewicht. Denn gesetzlich Krankenversicherte haben einen Anspruch auf Leistungen zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten. Die notwendigen medizinischen Aufgaben erfüllen Vertragsärzte damit bereits im Rahmen ihres Versorgungsauftrags. Bei den IGEL-Leistungen handelt es sich hingegen oftmals um Leistungen, deren Nutzen (noch) nicht ausreichend belegt ist und die daher in der ärztlichen Versorgung nicht im Vordergrund stehen. Die Beteiligung an den IGEL-Leistungen bot dem Kläger daher keine wirkliche Chance, durch unternehmerisches Geschick und verantwortungsvolle Patientenbetreuung seine Arbeit so effizient zu gestalten, dass sie das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu seinen Gunsten entscheidend hätte entscheidend hätte beeinflussen können. Erst recht hätten die hälftigen IGEL-Honorare nicht ausgereicht, eine eigene auskömmliche Altersversorgung aufzubauen.