Der Europäische Gerichtshof hat am 23.03.2021 zum Aktenzeichen C-28/20 entscheiden, dass ein von einer Gewerkschaft von Beschäftigten eines Luftfahrtunternehmens organisierter Streik, mit dem u. a. Gehaltserhöhungen durchgesetzt werden sollen, kein „außergewöhnlicher Umstand“ ist, der die Fluggesellschaft von ihrer Verpflichtung zur Leistung von Ausgleichszahlungen wegen Annullierung oder großer Verspätung der betroffenen Flüge befreien könnte.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 44/2021 vom 23.03.2021 ergibt sich:
Dies ist selbst dann der Fall, wenn der Streik unter Beachtung der Anforderungen des nationalen Rechts organisiert wird.
Ein Fluggast hatte einen Flug von Malmö nach Stockholm (Schweden) gebucht, der am 29. April 2019 von Scandinavian Airlines System Denmark – Norway – Sweden (SAS) hätte durchgeführt werden sollen. Der Flug wurde am selben Tag wegen eines Pilotenstreiks in Dänemark, Schweden und Norwegen annulliert. Nach dem Scheitern der Verhandlungen, die von den die SAS-Piloten vertretenden Gewerkschaften geführt wurden und den Abschluss eines neuen Tarifvertrags mit dieser Fluggesellschaft zum Ziel hatten, riefen diese Gewerkschaften ihre Mitglieder zum Streik auf. Der Streik dauerte sieben Tage und hatte zur Folge, dass SAS mehrere Flüge, darunter auch den von dem betroffenen Fluggast gebuchten, streichen musste.
Airhelp, an die dieser Fluggast seine möglicherweise gegenüber SAS bestehenden Rechte abgetreten hatte, erhob beim Attunda tingsrätt, Sollentuna (Bezirksgericht Attunda mit Sitz in Sollentuna, Schweden) Klage auf die in der Verordnung über die Fluggastrechte für den Fall der Annullierung eines Fluges vorgesehene Ausgleichszahlung (Art. 5 Abs. 1 Buchst. c i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – ABl. 2004, L 46, 1). SAS weigerte sich jedoch, diese Ausgleichszahlung zu leisten, weil sie den Streik ihrer Piloten für einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne dieser Verordnung hielt, der nicht Teil der normalen Ausübung ihrer Tätigkeit und von ihr nicht tatsächlich beherrschbar sei (nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung über die Fluggastrechte ist ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 dieser Verordnung zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären). Dagegen vertrat Airhelp die Auffassung, dass der Streik keinen „außergewöhnlichen Umstand“ darstelle, weil es bei Tarifvertragsverhandlungen und -abschlüssen, die unter die gewöhnliche Geschäftstätigkeit einer Fluggesellschaft fielen, zu Tarifkonflikten wie etwa Streiks kommen könne.
Der Attunda tingsrätt, Sollentuna äußerte Zweifel, ob der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne der Verordnung über die Fluggastrechte einen Streik umfasst, der von Arbeitnehmerorganisationen nach erfolgter Vorankündigung rechtmäßig beschlossen und eingeleitet wurde und mit dem u. a. Lohnerhöhungen durchgesetzt werden sollen. Nach schwedischem Recht muss ein Streik erst eine Woche vor seinem Beginn angekündigt werden.
Würdigung durch den Gerichtshof
In seinem von der Großen Kammer erlassenen Urteil kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass durch den Streikaufruf einer Gewerkschaft von Beschäftigten eines ausführenden Luftfahrtunternehmens eingeleitete Streikmaßnahmen, bei denen die Anforderungen des nationalen Rechts – insbesondere die darin für die Vorankündigung vorgesehene Frist – beachtet werden, mit denen die Forderungen der Beschäftigten dieses Unternehmens durchgesetzt werden sollen und denen sich eine für die Durchführung eines Fluges erforderliche Beschäftigtengruppe anschließt, nicht unter den Begriff „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne der Verordnung über die Fluggastrechte fallen.
Zunächst weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Begriff „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne der Verordnung über die Fluggastrechte Vorkommnisse bezeichnet, bei denen zwei kumulative Bedingungen erfüllt sind, deren Vorliegen von Fall zu Fall zu beurteilen ist. Zum einen dürfen die Vorkommnisse ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sein und zum anderen dürfen sie von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sein (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 22.12.2008 – C-549/07 Rn. 23 „Wallentin-Hermann“; EuGH, Urt. v. 17.09.2015 – C-257/14 Rn. 36 „van der Lans“; EuGH, Urt. v. 17.04.2018 – C-195/17, C-197/17 bis C-203/17, C-226/17, C-228/17, C-254/17, C-274/17, C-275/17, C-278/17 bis C-286/17, C-290/17 bis C-292/17 Rn. 32 und 34 und C-74/19 Rn. 37).
Zudem ist dieser Begriff eng auszulegen, da ein Ziel der Verordnung darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen und es sich bei der Befreiung von der in der Verordnung vorgesehenen Ausgleichspflicht um eine Ausnahme von dem Grundsatz handelt, wonach diese Fluggäste einen Anspruch auf Ausgleichszahlungen haben.
Danach prüft der Gerichtshof, ob ein durch den Streikaufruf einer Gewerkschaft von Beschäftigten eines ausführenden Luftfahrtunternehmens eingeleiteter Streik, der innerhalb der vom nationalen Rechts vorgesehenen Frist angekündigt wurde, mit dem die Forderungen der Beschäftigten dieses Unternehmens durchgesetzt werden sollen und dem sich eine oder mehrere der für die Durchführung eines Fluges erforderlichen Beschäftigtengruppen anschließen, um einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne dieser Verordnung handelt.
Was zunächst die Frage betrifft, ob der fragliche Streik als Vorkommnis angesehen werden kann, das nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens ist, stellt der Gerichtshof fest, dass das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme einschließlich des Streikrechts ein in Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankertes Grundrecht ist. Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass ein Streik als eine der möglichen Erscheinungsformen von Kollektivverhandlungen, unabhängig von den Besonderheiten des entsprechenden Arbeitsmarktes oder des anwendbaren nationalen Rechts zur Umsetzung dieses Grundrechts, als ein Vorkommnis anzusehen ist, das Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Arbeitgebers ist. Diese Auslegung muss auch gelten, wenn der Arbeitgeber ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist, da auch die Maßnahmen in Bezug auf die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der Mitarbeiter eines solchen Unternehmens unter dessen normale Geschäftsführung fallen. Somit handelt es sich bei einem Streik, dessen Ziel sich darauf beschränkt, gegenüber Luftfahrtunternehmen eine Gehaltserhöhung für die Piloten, eine Änderung ihrer Arbeitszeiten sowie eine bessere Planbarkeit der Arbeitszeit durchzusetzen, um ein Vorkommnis, das Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit dieses Unternehmens ist, insbesondere, wenn ein solcher Streik unter Beachtung der gesetzlichen Anforderungen organisiert wird.
Sodann betont der Gerichtshof in Bezug auf die Frage, ob der fragliche Streik von dem betreffenden Luftfahrtunternehmen in keiner Weise tatsächlich beherrschbar war, dass erstens die Auslösung eines Streiks, da es sich beim Streik um ein für die Arbeitnehmer durch die Charta verbürgtes Recht handelt, als für jeden Arbeitgeber vorhersehbare Tatsache anzusehen ist, insbesondere, wenn ein solcher Streik angekündigt wurde.
Zweitens verfügt der Arbeitgeber, da für ihn der Ausbruch eines Streiks ein vorhersehbares Ereignis darstellt, grundsätzlich über die Mittel, sich darauf vorzubereiten und damit dessen Folgen gegebenenfalls abzufangen. Insofern kann ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, wie jeder Arbeitgeber, dessen Beschäftigte zur Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen und einer höheren Bezahlung streiken, nicht behaupten, es habe keinerlei Einfluss auf die Streikmaßnahmen.
Folglich kann ein Streik von Beschäftigten eines ausführenden Luftfahrtunternehmens nicht als „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne der Verordnung über die Fluggastrechte angesehen werden, wenn er mit Forderungen in Bezug auf die Arbeitsbedingungen zwischen dem Unternehmen und seinen Beschäftigten verbunden ist, die im Rahmen des betriebsinternen sozialen Dialogs verhandelt werden können, was bei Gehaltsverhandlungen der Fall ist.
Drittens sind Vorkommnisse mit im Hinblick auf das ausführende Luftfahrtunternehmen „externer“ Ursache, anders als solche mit „interner“ Ursache, von diesem Unternehmen nicht beherrschbar, weil sie auf ein Naturereignis oder die Handlung eines Dritten, etwa eines anderen Luftfahrtunternehmens oder einer öffentlichen oder privaten Stelle, zurückgehen, die in den Flug- oder den Flughafenbetrieb eingreifen. Somit ist die Bezugnahme in der Verordnung über die Fluggastrechte (14. Erwägungsgrund der Verordnung über die Fluggastrechte) auf die außergewöhnlichen Umstände, die insbesondere bei den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten können, dahin zu verstehen, dass sie die außerhalb der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens liegenden Streiks betrifft, etwa Streiks der Fluglotsen oder des Flughafenpersonals. Dagegen handelt es sich bei einem von den eigenen Beschäftigten des betroffenen Luftfahrtunternehmens ausgelösten und befolgten Streik um ein „internes“ Ereignis dieses Unternehmens; dies schließt auch einen durch den Streikaufruf von Gewerkschaften ausgelösten Streik ein, da diese im Interesse der Arbeitnehmer dieses Unternehmens auftreten. Allerdings kann es sich um einen „außergewöhnlichen Umstand“ handeln, wenn einem solchen Streik Forderungen zugrunde liegen, die nur von staatlichen Stellen erfüllt werden können und die daher für das Luftfahrtunternehmen nicht tatsächlich beherrschbar sind.
Viertens stellt der Gerichtshof fest, dass die Annahme, dass der fragliche Streik nicht unter den Begriff der „außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne der Verordnung über die Fluggastrechte fällt, weder das Eigentumsrecht (verankert in den Art. 16 und 17 der Charta) des betroffenen Luftfahrtunternehmens noch dessen Recht auf Kollektivverhandlungen (verankert in Art. 28 der Charta) verletzt. Was dieses letztgenannte Recht angeht, zwingt der Umstand, dass ein Luftfahrtunternehmen aufgrund eines unter Beachtung der gesetzlichen Anforderungen organisierten Streiks seiner Beschäftigten der Gefahr ausgesetzt ist, eine solche Ausgleichszahlung leisten zu müssen, dieses Unternehmen nicht dazu, ohne Weiteres allen Forderungen der Streikenden zuzustimmen. Das Luftfahrtunternehmen ist weiterhin in der Lage, die betrieblichen Interessen so zu vertreten, dass ein alle Sozialpartner zufriedenstellender Kompromiss erreicht werden kann. In Bezug auf die unternehmerische Freiheit und das Eigentumsrecht eines Luftfahrtunternehmens weist der Gerichtshof darauf hin, dass diese nicht absolut gewährleistet werden und die Bedeutung, die dem Ziel des Schutzes der Verbraucher (im Sinne von Art. 169 AEUV und Art. 38 der Charta) und somit auch der Fluggäste zukommt, auch negative wirtschaftliche Folgen selbst beträchtlichen Ausmaßes für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen kann.