Festnahmeersuchen über Interpol: Verbot der Doppelbestrafung

13. Mai 2021 -

Der Europäische Gerichtshof hat am 12.05.2021 zum Aktenzeichen C-505/19 entschieden, dass der Festnahme einer Person, die Gegenstand einer Ausschreibung von Interpol ist, im Schengen-Raum und in der Europäischen Union das Verbot der Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen entgegenstehen kann.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. Nr. 76/2021 vom 12.05.2021 ergibt sich:

Dies ist der Fall, wenn die zuständigen Behörden von einer in einem Vertragsstaat des Übereinkommens von Schengen oder einem Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung Kenntnis haben, mit der festgestellt wird, dass dieses Verbot greift.

2012 gab die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) auf Antrag der Vereinigten Staaten eine WS betreffende Red Notice heraus. WS besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Er sollte gegebenenfalls ausgeliefert werden. Grundlage der Red Notice war ein von den Behörden der Vereinigten Staaten ausgestellter Haftbefehl. Wird festgestellt, dass sich eine Person, die Gegenstand einer solchen Red Notice ist, in einem Mitgliedstaat von Interpol aufhält, muss dieser sie grundsätzlich vorläufig festnehmen oder ihre Bewegungen überwachen oder einschränken.
Noch vor der Herausgabe der WS betreffenden Red Notice war nach den Angaben des vorlegenden Gerichts gegen diese Person in Deutschland aber wegen derselben Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Dieses Verfahren wurde 2010 gegen Erfüllung einer Geldauflage rechtskräftig eingestellt. Dabei wurde von einer im deutschen Strafrecht vorgesehenen besonderen Möglichkeit der einvernehmlichen Verfahrensbeendigung Gebrauch gemacht. In der Folge teilte das Bundeskriminalamt (Deutschland) Interpol mit, dass es davon ausgehe, dass wegen dieses vorausgegangenen Verfahrens im vorliegenden Fall das Verbot der Doppelbestrafung greife. Nach diesem sowohl in Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichnetes Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, das am 26. März 1995 in Kraft getreten ist – ABl. 2000, L 239, S. 19; im Folgenden: SDÜ) als auch in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundsatz darf eine Person, die bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, nicht noch einmal wegen derselben Tat verfolgt werden.
WS erhob 2017 beim Verwaltungsgericht Wiesbaden Klage gegen Deutschland. Er beantragt, diese zu verurteilen, alle geeigneten Maßnahmen zur Löschung der ihn betreffenden Red Notice zu ergreifen. Er macht neben einem Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot eine Verletzung seines in Art. 21 AEUV garantierten Rechts auf Freizügigkeit geltend. Er könne sich nicht in einen Vertragsstaat des Übereinkommens von Schengen oder einen Mitgliedstaat begeben, ohne Gefahr zu laufen, festgenommen zu werden. Ferner macht er geltend, dass die Verarbeitung der ihn betreffenden personenbezogenen Daten, die in der Red Notice enthalten seien, wegen dieser Verstöße gegen die Richtlinie 2016/680 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten in Strafsachen (ABl. 2016, L 119, S. 89) verstoße.

Vor diesem Hintergrund hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden beschlossen, dem Gerichtshof Fragen zur Anwendung des Verbots der Doppelbestrafung vorzulegen, insbesondere zur Möglichkeit der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer Red Notice ist, in einem Fall wie dem, um den es im Ausgangsverfahren geht. Darüber hinaus möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Folgen sich daraus für die Verarbeitung der in einer Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten durch die Mitgliedstaaten ergeben.

In seinem Urteil kommt der Gerichtshof (Große Kammer) zu dem Ergebnis, dass Art. 54 SDÜ und Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta, dahin auszulegen sind, dass sie der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer von Interpol auf Antrag eines Drittstaats herausgegebenen Red Notice ist, durch die Behörden eines Vertragsstaats des Übereinkommens von Schengen oder eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, es sei denn, mit einer in einem Vertragsstaat dieses Übereinkommens oder einem Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung wird festgestellt, dass die betreffende Person von einem Vertragsstaat dieses Übereinkommens oder einem Mitgliedstaat wegen derselben Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist. Ferner entscheidet der Gerichtshof, dass die Vorschriften der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Verarbeitung der in einer von Interpol herausgegebenen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten nicht entgegenstehen, solange nicht mit einer solchen gerichtlichen Entscheidung festgestellt worden ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung bei den Taten, auf die sich die betreffende Red Notice bezieht, greift, und sofern die Verarbeitung der Daten die Voraussetzungen gemäß der Richtlinie 2016/680 erfüllt.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass das Verbot der Doppelbestrafung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, d. h., wenn eine Verfügung erlassen worden ist, mit der ein Strafverfahren gegen Erfüllung bestimmter Auflagen durch den Beschuldigten, insbesondere die Zahlung eines von der Staatsanwaltschaft festgelegten Geldbetrags, rechtskräftig eingestellt wurde, zum Tragen kommen kann.

Sodann stellt der Gerichtshof als Erstes fest, dass Art. 54 SDÜ, Art. 50 der Charta und Art. 21 Abs. 1 AEUV der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer von Interpol herausgegebenen Red Notice ist, nicht entgegenstehen, solange nicht feststeht, dass die Person von einem Vertragsstaat des Übereinkommens von Schengen oder einem Mitgliedstaat wegen derselben Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist und damit das Verbot der Doppelbestrafung greift.

In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass eine vorläufige Festnahme in Fällen, in denen zweifelhaft ist, ob das Verbot der Doppelbestrafung greift, einen unerlässlichen Zwischenschritt darstellen kann, um die erforderlichen Überprüfungen vorzunehmen und zugleich der Gefahr zu begegnen, dass die betreffende Person flüchtet. Sie ist daher durch das legitime Ziel der Vermeidung der Straflosigkeit dieser Person gerechtfertigt. Sobald aber mit einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung festgestellt worden ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift, stehen sowohl das gegenseitige Vertrauen der Vertragsstaaten des Übereinkommens von Schengen als auch das Recht auf Freizügigkeit einer vorläufigen Festnahme bzw. Inhafthaltung entgegen. Der Gerichtshof stellt klar, dass es den Vertragsstaaten des Übereinkommens von Schengen und den Mitgliedstaaten obliegt, sicherzustellen, dass den betroffenen Personen Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, um eine solche Entscheidung zu erwirken. Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass in Fällen, in denen die vorläufige Festnahme nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, weil das Verbot der Doppelbestrafung greift, ein Mitgliedstaat von Interpol, wenn er die betreffende Person nicht vorläufig festnimmt, nicht gegen seine Verpflichtungen als Mitglied von Interpol verstößt.

Als Zweites stellt der Gerichtshof zu der Frage betreffend die personenbezogenen Daten, die in einer von Interpol herausgegebenen Red Notice enthalten sind, fest, dass jeder Vorgang im Zusammenhang mit diesen Daten, wie etwa die Speicherung in den Fahndungsdatenbanken eines Mitgliedstaats, eine „Verarbeitung“ darstellt, die unter die Richtlinie 2016/680 fällt (vgl. Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Nr. 2 der RL 2016/680). Der Gerichtshof stellt insoweit weiter fest, dass mit einer solchen Verarbeitung ein rechtmäßiger Zweck verfolgt wird und dass sie nicht allein deshalb als rechtswidrig angesehen werden kann, weil bei den Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, das Verbot der Doppelbestrafung zum Tragen kommen könnte (vgl. Art. 4 Abs. 1 Buchst. b und Art. 8 Abs. 1 der RL 2016/680). Die Verarbeitung solcher Daten durch die Behörden der Mitgliedstaaten kann sich im Übrigen gerade als unerlässlich erweisen, um zu überprüfen, ob das Verbot der Doppelbestrafung greift.

Der Gerichtshof gelangt deshalb zu dem Schluss, dass die Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta der Verarbeitung der in einer von Interpol herausgegebenen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten nicht entgegensteht, solange nicht mit einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung festgestellt worden ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung in dem betreffenden Fall greift. Die Verarbeitung der betreffenden Daten muss jedoch die Voraussetzungen gemäß der Richtlinie 2016/680 erfüllen. Sie muss u. a. für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich sein, die von der zuständigen Behörde zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung wahrgenommenen wird (vgl. Art. 1 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 der RL 2016/680)

Greift jedoch das Verbot der Doppelbestrafung, ist die Speicherung der in einer von Interpol herausgegebenen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten in den Fahndungsdatenbanken der Mitgliedstaaten nicht mehr erforderlich, da die betreffende Person wegen der Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, nicht mehr verfolgt und damit auch nicht mehr festgenommen werden darf. Folglich muss die betroffene Person die Löschung der sie betreffenden Daten verlangen können. Werden diese trotzdem weiter gespeichert, müssen sie mit dem Hinweis versehen werden, dass die betreffende Person in einem Vertragsstaat des Übereinkommens von Schengen oder einem Mitgliedstaat aufgrund des Verbots der Doppelbestrafung wegen derselben Taten nicht mehr verfolgt werden darf.