Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 18. Februar 2022 zum Aktenzeichen 1 BvR 305/21 entschieden, dass die Verwerfung eines Antrags auf Zulassung der Berufung verfassungswidrig ist.
Der Beschwerdeführer ist Eigentümer eines Grundstücks, auf dem sich ein Gewässer befindet, hinsichtlich dessen streitig war, ob dem Beschwerdeführer das Fischereirecht zustand. Seine Klage auf Feststellung der Mitgliedschaft in einer Fischereigenossenschaft, hilfsweise auf Zahlung einer Entschädigung, wies das Verwaltungsgericht mit angegriffenem Urteil vom 30. September 2020 ab, das dem Bevollmächtigten am 16. Oktober 2020 zugestellt wurde.
Der Beschwerdeführer legte daraufhin mit Schreiben vom 19. Oktober 2020 bei dem Präsidenten des Verwaltungsgerichts Dienstaufsichtsbeschwerde mit der Begründung ein, der Termin zur mündlichen Verhandlung sei nicht verschoben worden, obwohl sein ‒ in dem Schreiben namentlich benannter ‒ Bevollmächtigter krankheitsbedingt verhindert gewesen sei und vorab einen Antrag auf Verlegung gestellt habe. Sein Bevollmächtigter habe nun bereits „Einspruch“ gegen das „Versäumnisurteil“ eingelegt.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 12. November 2020 beantragte der Beschwerdeführer die Zulassung der Berufung gegen das Urteil.
Mit Verfügung des Oberverwaltungsgerichts vom 20. November 2020, die dem Bevollmächtigten am gleichen Tag zuging, wurde der Eingang der Rechtsmittelschrift bestätigt und darum gebeten, die Prozessvollmacht im Original bis zum 27. November 2020 nachzureichen.
Mit Schreiben der Geschäftsstelle des Oberverwaltungsgerichts vom 1. Dezember 2020 erinnerte diese den Bevollmächtigten des Beschwerdeführers an die Erledigung der gerichtlichen Verfügung vom 20. November 2020 und bat ihn um Mitteilung beziehungsweise Angabe der Hinderungsgründe, sofern dies derzeit nicht möglich sein sollte. Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers rief daraufhin noch am selben Tag auf der Geschäftsstelle an und unterrichtete die dort tätige Justizangestellte und diese informierte wiederum den Senatsvorsitzenden darüber, dass die Vollmacht auf dem Postweg übersandt werde. Nach Angaben des Bevollmächtigten hat er bei diesem Anruf zudem ‒ was der Justizangestellten im Rahmen ihrer dienstlichen Äußerung vom 29. Dezember 2020 nicht erinnerlich war ‒ konkret mitgeteilt, die Vollmacht sei noch auf dem Postweg zu ihm und werde schnellstmöglich weitergeschickt. Mit Schriftsatz vom 2. Dezember 2020, der am selben Tag beim Oberverwaltungsgericht einging, beantragte er zudem unter Bezugnahme auf die „Reise- und Kommunikationsbeschränkungen und die anstehende Weihnachtszeit“ eine Fristverlängerung für die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung und erklärte „die Prozessvollmacht im Original wird zeitnah übersandt werden“.
Mit angegriffenem Beschluss vom 3. Dezember 2020, der dem Bevollmächtigten des Beschwerdeführers am gleichen Tag zuging, verwarf das Oberverwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung gegen das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts. Der Antrag sei unzulässig, weil der hier auftretende Rechtsanwalt nicht (nachgewiesenermaßen) bevollmächtigt sei. Eine vor dem Oberverwaltungsgericht nach § 67 Abs. 4 VwGO notwendige Vertretung sei daher nicht gegeben, zumal ein Nachweis im Sinne des § 67 Abs. 6 VwGO nicht vorgelegt und die hierfür vom Vorsitzenden des Senats mit Verfügung vom 20. November 2020 gesetzte Frist nicht eingehalten worden sei. In einem solchen Fall sei ein eingelegtes Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen. Werde die durch § 67 Abs. 6 Satz 1 und 2 VwGO ausgewiesene Obliegenheit, eine schriftliche Vollmacht vorzulegen, verletzt, führe dies grundsätzlich auch ohne Fristsetzung durch das Gericht zur Unzulässigkeit. Zur Wahrung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs müsse das Gericht dem Rechtsanwalt indes zu erkennen geben, dass die Vollmacht bisher nicht vorgelegt wurde, dies jedoch zur Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtsbehelfs für erforderlich gehalten werde. Dazu sei es im Allgemeinen ausreichend, dass die Prozessvollmacht angefordert und dem Bevollmächtigten ausreichend Gelegenheit gegeben werde, den Zulässigkeitsmangel zu heilen. Dies gelte, sofern die Voraussetzungen einer Prüfung von Amts wegen vorliegen, auch dann, wenn als Verfahrensbevollmächtigter ein Rechtsanwalt auftrete (unter Verweis auf den Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 17. April 1984 – GmS-OGB 2/83 -, juris).
Vorliegend seien die Voraussetzungen für eine solche Prüfung erfüllt, weil besondere Umstände Anlass für Zweifel begründeten, ob eine hinreichende Prozessvollmacht für das eingeleitete Verfahren bestehe. Solche Umstände lägen hier darin, dass eine Vollmacht schon im erstinstanzlichen Verfahren nicht vorgelegt worden sei, ohnehin nicht feststehe, dass eine solche auch die Durchführung eines Rechtsmittelverfahrens umfasse, und es zudem ungewöhnlich sei, dass der Rechtsanwalt auf die gerichtliche Aufforderung hin nicht umgehend eine Vollmacht oder zumindest eine Erklärung vorgelegt habe, was einer Vorlage bislang entgegengestanden habe. Auch die Beantragung einer nicht unerheblichen Verlängerung der Begründungsfrist könne auf einen fehlenden Kontakt des Bevollmächtigten zu dem Beschwerdeführer hindeuten.
Die Originalvollmacht des Beschwerdeführers, die am 8. Dezember 2020 beim Bevollmächtigten eingetroffen sei, übersandte dieser dem Oberverwaltungsgericht mit Schriftsatz vom 11. Dezember 2020, in dem er zudem eine Gegenvorstellung erhob. Das Oberverwaltungsgericht verwarf diese mit Beschluss vom 12. Januar 2021. Zur Begründung führte es aus, dass eine Gegenvorstellung neben der – hier in Ermangelung der Rüge eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör nicht in Rede stehenden – Anhörungsrüge schon nicht statthaft sei. Der Senat habe vor der Fassung seines hier angegriffenen Beschlusses vom 3. Dezember 2020 sowohl die telefonische Mitteilung wie auch den Schriftsatz des Bevollmächtigten vom Vortag zur Kenntnis genommen und erwogen. Unbeschadet der Frage, ob dadurch eine plausible Erklärung für die bisherige Verhinderung der Vollmachtvorlage erbracht sei, habe sich daraus jedenfalls ergeben, dass der Bevollmächtigte noch nicht in Besitz der auf den 16. Oktober 2020 datierten Originalvollmacht gewesen sei.
Der angegriffene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 3. Dezember 2020 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Aus dem hierin verankerten Gebot effektiven Rechtsschutzes ergeben sich Anforderungen an die gerichtliche Handhabung des Rechtsmittelrechts. Zwar gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG keinen Anspruch auf die Errichtung eines Instanzenzuges. Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen, darf der Zugang zu ihnen nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Das Gleiche gilt, wenn das Prozessrecht den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gibt, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten (vgl. BVerfGE 151, 173 <184 Rn. 27>; stRspr). Dem Gericht ist es insoweit verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Schranken den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl. BVerfGE 84, 366 <369 f.>; stRspr).
In Anwendung dieser Maßstäbe verstößt der angegriffene Beschluss gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Ein hinreichender Anlass, den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung zu verwerfen, geht aus den Beschlussgründen nicht hervor und ist auch ansonsten nicht erkennbar. Es ist bereits nicht ersichtlich, dass hier die Zweifel an der Bevollmächtigung des auftretenden Rechtsanwalts berechtigt waren, die aber Voraussetzung dafür sind, einen Mangel der Vollmacht ausnahmsweise von Amts wegen zu berücksichtigen. Jedenfalls hätte das Oberverwaltungsgericht den Antrag auf Zulassung der Berufung unter den hier gegebenen Umständen nicht aufgrund des Fehlens einer Vollmacht verwerfen dürfen.
Während der Mangel einer nach § 67 Abs. 4 Satz 1, Abs. 6 Satz 1 VwGO erforderlichen schriftlichen Vollmacht durch andere Beteiligte in jeder Lage geltend gemacht werden kann, hat ihn das Gericht grundsätzlich nur dann von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn nicht ein Rechtsanwalt als Bevollmächtigter auftritt (§ 67 Abs. 6 Satz 3 und 4 VwGO). Auch wenn wie hier ein Rechtsanwalt als Bevollmächtigter auftritt, kommt aber nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Prüfung von Amts wegen dann in Betracht, wenn die Art und Weise der Prozessführung beziehungsweise sonstige besondere Umstände dem Gericht dazu berechtigten Anlass geben. Dies wurde etwa bejaht, wenn der auftretende Rechtsanwalt trotz gerichtlicher Aufforderung innerhalb der gesetzten Frist nicht nur versäumt, die Vollmacht nachzureichen, sondern zudem den angeblich vertretenen Kläger nicht ordnungsgemäß bezeichnet (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2011 – 8 A 1/10 -, juris, Rn. 16; Urteil vom 15. August 2019 – 1 A 2/19 -, juris, Rn. 16). Auch in weiteren Entscheidungen wird auf eine fehlende Nachreichung der Vollmacht abgestellt, wobei aber immer weitere Umstände angeführt sind, die jeweils gegen das Bestehen der Bevollmächtigung sprachen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. März 1996 – 4 A 38/95 -, juris, Rn. 8; Urteil vom 22. Januar 1985 – 9 C 105/84 -, juris, Rn. 3 und 9 ff.; vgl. zu ernsthaftem Zweifel als Voraussetzung für eine gerichtliche Prüfung und Berücksichtigung eines Mangels der Vollmacht zudem BSG, Beschluss vom 20. Januar 2016 – B 14 AS 188/15 B -, juris, Rn. 11; BGH, Urteil vom 5. April 2001 – IX ZR 309/00 -, juris, Rn. 11). Allein durch die Nichtvorlage nach Aufforderung wird hingegen das dem Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege ausweislich des § 67 Abs. 6 Satz 4 VwGO beigemessene besondere Vertrauen nicht erschüttert. Angesichts der ausdrücklichen gesetzlichen Möglichkeit zur Nachreichung der Vollmacht nach § 67 Abs. 6 Satz 1 VwGO stellt ein solches Verhalten – zumal zum Zeitpunkt der Erhebung des Rechtsmittels – keine besonders ungewöhnliche Prozesssituation dar. Auf die ausbleibende Nachreichung kann allenfalls nach ‒ Zweifel verfestigender ‒ mehrmaliger vergeblicher Erinnerung und Fristsetzung maßgeblich abgestellt werden (vgl. OVG der Freien Hansestadt Bremen, Beschluss vom 9. März 2021 – 1 D 343/20 -, juris, Rn. 7).
Für berechtigte Zweifel an der Bevollmächtigung bieten die vom Oberverwaltungsgericht angeführten Gründe danach, auch in ihrer Zusammenschau, keinerlei Anlass. Der Verweis darauf, dass eine Vollmacht schon in der Vorinstanz nicht vorgelegt worden sei, genügt hier schon deshalb nicht, weil in der dem Oberverwaltungsgericht vorliegenden Akte des erstinstanzlichen Verfahrens mit der durch den Beschwerdeführer persönlich eingelegten Dienstaufsichtsbeschwerde Anhaltspunkte dafür zu finden sind, dass der auftretende Rechtsanwalt jedenfalls damals bevollmächtigt war. Darüber hinaus ergibt sich hieraus unmissverständlich, dass der Beschwerdeführer gegen das erstinstanzliche Urteil vorgehen wollte und dass er dies gerade durch seinen Prozessbevollmächtigten tun wollte. Überhaupt nicht nachvollziehbar ist vor diesem Hintergrund auch, warum die Beantragung der Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hier auf einen Abbruch des Kontakts des Bevollmächtigten zum Beschwerdeführer hindeuten sollte. Daran änderte auch nichts, wenn der Bevollmächtigte auf die gerichtliche Erinnerung an die Erfüllung der Eingangsverfügung hin, bei seiner noch am selben Tag telefonisch und am Folgetag schriftsätzlich erfolgten Ankündigung, die schriftliche Vollmacht bald zu übersenden, die Umstände für die Verspätung ‒ was der Beschwerdeführer bestreitet ‒ nicht benannt haben sollte.
Selbst wenn die Verwerfung nicht bereits mangels nachvollziehbarer Zweifel an der Bevollmächtigung gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoßen würde, wäre eine Verwerfung aufgrund des Fehlens einer Vollmacht hier nicht mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar gewesen. Hätten berechtigte Zweifel an der Bevollmächtigung bestanden, wäre dem (angeblich) Bevollmächtigten zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes eine angemessene Zeitspanne einzuräumen gewesen, innerhalb derer er die Vollmacht nachzureichen hat. Dem wurde die vom Oberverwaltungsgericht gesetzte Wochenfrist hier nicht gerecht. Unabhängig davon, ob eine Wochenfrist für die Nachreichung der Vollmacht nach § 67 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO grundsätzlich ausreichen könnte, widersprach eine solche Begrenzung jedenfalls vorliegend einer an der Effektivität des Rechtsschutzes orientierten Rechtsanwendung, weil keinerlei Umstände ersichtlich sind, die im konkreten Fall eine derart kurze Frist für die – gesetzlich ausdrücklich in § 67 Abs. 6 Satz 2 VwGO vorgesehene – Nachreichung erfordert haben könnte. So ist etwa ein generell für kurze Fristen streitender besonderer Eil- beziehungsweise Beschleunigungsbedarf weder durch das Oberverwaltungsgericht benannt noch in der Sache ersichtlich, zumal noch nicht einmal die Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung abgelaufen war.
Der angegriffene Beschluss ist auch nicht deswegen mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar, weil das Oberverwaltungsgericht nach Ablauf der von ihm gesetzten Wochenfrist noch eine weitere Woche bis zu seiner Entscheidung zuwartete, denn das Gericht stellt allein auf den Fristablauf ab, nicht aber darauf, dass ein weiterer Zeitraum verstrichen ist.