Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz in Koblenz hat am 30.10.2020 zum Aktenzeichen VGH O 52/20 entschieden, dass der Ausschluss der Bildungspolitikerin Helga Lerch aus der rheinland-pfälzischen FDP-Landtagsfraktion rechtmäßig ist.
Aus der Pressemitteilung des VerfGH RP Nr. 10/2020 vom 04.11.2020 ergibt sich:
Die Antragstellerin ist Mitglied der Freien Demokratischen Partei (FDP) und Abgeordnete des Landtags Rheinland-Pfalz. Mit ihrer im Juli 2020 erhobenen Klage wandte sie sich gegen den Ausschluss aus der Fraktion der FDP, der im Februar 2020 durch Beschluss der Fraktionsversammlung erfolgt war. Die antragsgegnerische Fraktion hatte den Ausschluss damit begründet, das Vertrauensverhältnis zur Antragstellerin sei so nachhaltig gestört, dass die weitere Zusammenarbeit mit ihr nicht mehr zumutbar sei. Darüber hinaus habe sie das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit nachhaltig geschädigt und damit die Außenwirkung der Fraktion und ihre Wirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt. Die Antragstellerin habe in einer Plenardebatte im Oktober 2019 im Alleingang und ohne vorherige Abstimmung in der Fraktion eine – über die Ziele des Koalitionsvertrags hinausgehende – politische Forderung von erheblicher Tragweite betreffend die Unterrichtsversorgung erhoben. Einer Rede der Fraktionsvorsitzenden zu den im Koalitionsvertrag niedergelegten Zielen zur Unterrichtsversorgung in einer Plenarsitzung im November 2019 habe die Antragstellerin nicht applaudiert, was ersichtlich ihre Distanzierung von der Fraktion zum Ausdruck gebracht habe. In der Sitzung des Ausschusses für Gleichstellung und Frauenförderung im Januar 2020 habe die Antragstellerin – trotz vorherigen Hinweisen, dass entsprechende Erklärungen in der Fraktionsversammlung zu besprechen seien – ebenfalls ohne vorherige Erörterung Äußerungen zum brisanten Thema „sexuelle Gewalt an Schulen“ gemacht, die letztlich den Verdacht zum Ausdruck gebracht hätten, die von der Fraktion gestützte Landesregierung reagiere auf Fälle sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen nicht adäquat. Auf die Missbilligung ihres Verhaltens durch den Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktion in einem Telefonat habe die Antragstellerin diesem gedroht, Aufzeichnungen über sein Privatleben zu haben und öffentlich zu machen. Eine Aufarbeitung der Vorkommnisse in der Fraktion habe sie nicht ermöglicht. Eine Plenarsitzung im Januar 2020 habe sie unentschuldigt verlassen, als noch mehrere Gesetze zur Abstimmung angestanden hätten. Die Sachverhalte seien teilweise Gegenstand umfangreicher Presseberichterstattung gewesen und hätten das Auftreten der Fraktion in Parlament und Öffentlichkeit erheblich beeinträchtigt.
Gegen die Behauptung und Verbreitung der auf das Telefonat mit dem Parlamentarischen Geschäftsführer bezogenen Passage im Ausschlussantrag suchte die Antragstellerin – erfolglos – mit dem Vorbringen, sie habe keine solche Drohung ausgesprochen, vor dem LG Mainz um Erlass einer einstweiligen Verfügung nach. Die Antragstellerin machte zur Begründung ihrer Klage eine Verletzung ihrer Rechte als Abgeordnete durch den Fraktionsausschluss geltend. Was das Ausschlussverfahren betreffe, habe sie zwar Gelegenheit gehabt, in der Fraktionsversammlung Stellung zu nehmen. Ausgehend von ihren Ausführungen sei jedoch keine weitere Diskussion innerhalb der Fraktion mehr erfolgt. In der Sache habe die Antragsgegnerin dem Fraktionsausschluss evident unzutreffende tatsächliche Annahmen zu Grunde gelegt; in der Bewertung der Geschehnisse liege eine Verletzung ihres freien Mandats. Betreffend die Unterrichtsversorgung habe sie keine politische Forderung erhoben, sondern eine Idealvorstellung geäußert, die sich auch im Wahlprogramm der FDP gefunden habe. In der Ausschusssitzung habe sie spontan von ihren Erfahrungen als Schulleiterin berichtet und lediglich an das zuständige Ministerium eine Bitte um rechtliche Klärung der beamtenrechtlichen Rahmenbedingungen zum Umgang mit solchen Vorfällen geäußert. Hinsichtlich des Telefonats mit dem Parlamentarischen Geschäftsführer ergebe sich die Unrichtigkeit der dem Fraktionsausschluss zu Grunde gelegten tatsächlichen Annahmen aus ihrer eidesstattlichen Versicherung im Verfahren vor dem LG Mainz. Dass sie zur Rede der Fraktionsvorsitzenden nicht applaudiert habe, habe die Antragsgegnerin bereits tatsächlich nicht näher dargelegt. Zudem missbillige die Antragsgegnerin auch damit und mit dem weiteren Vorwurf, eine Plenarsitzung – aus gesundheitlichen Gründen – unentschuldigt vorzeitig verlassen zu haben, ein Verhalten, das vom freien Mandat gedeckt sei. Ein fraktionsschädigendes Verhalten – jedenfalls durch sie – ergebe sich aus der Presseberichterstattung nicht. Insgesamt treffe es nicht zu, dass sie sich von der Fraktion distanziert habe und zu einer konstruktiven und vertrauensvollen Zusammenarbeit nicht mehr bereit sei.
Der VerfGH Koblenz hat die Klage als unbegründet zurückgewiesen.
Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes ist der Fraktionsausschluss verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Fraktion habe durch den Ausschluss der Antragstellerin deren aus dem Statusrecht eines Abgeordneten folgenden Anspruch auf willkürfreie Entscheidung nicht verletzt. In Bestätigung und Fortführung seiner Rechtsprechung aus dem im Januar 2019 ergangenen Urteil im Verfahren VGH O 18/18 („Ausschluss eines Landtagsabgeordneten aus der AfD-Fraktion“) führte der Verfassungsgerichtshof aus:
Fraktionen seien für das Verfassungsleben notwendige und zugleich die das Parlament bestimmenden Einrichtungen. Sie organisierten das parlamentarische Geschehen arbeitsteilig und sicherten die parlamentarische Funktionsfähigkeit vor allem durch mehrheitsfähige Meinungsbündelung. Die Mitarbeit in einer Fraktion habe daher für die Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten eine gewichtige Bedeutung. Die Bildung einer Fraktion als freiwilliger Zusammenschluss von Abgeordneten im Parlament erfolge in Ausübung des freien Mandats der Abgeordneten. Sie seien frei in der Entscheidung, mit wem und unter welchen Bedingungen sie sich zur gemeinsamen politischen Arbeit zusammenschlössen. In Wahrnehmung ihrer Mandatsfreiheit könnten die Fraktionsmitglieder grundsätzlich einen Abgeordneten auch aus ihren Reihen wieder ausschließen. Angesichts der zentralen Bedeutung der Fraktionen für die parlamentarische Arbeit und die Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten stehe eine solche Entscheidung über den Verlust der Fraktionszugehörigkeit jedoch nicht im Belieben der Fraktion. Der Fraktionsausschluss setze vielmehr ein rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügendes Verfahren sowie einen willkürfreien Entschluss der Fraktionsversammlung voraus.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei dem betroffenen Abgeordneten insbesondere die Möglichkeit einer Verteidigung gegen die ihm gegenüber namhaft zu machenden Vorwürfe einzuräumen. Gleichermaßen müssten die Fraktionsmitglieder so informiert werden, dass sie an der Entscheidung über den Fraktionsausschluss verantwortlich mitwirken könnten. Darüber hinaus bestünden rechtsstaatliche Mindestanforderungen betreffend die Einberufung der Fraktionsversammlung und die dortige Abstimmung über den Ausschluss.
Der vorliegend im Streit stehende Fraktionsausschluss genüge diesen formellen Anforderungen. Er sei in einem verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Ausschlussverfahren beschlossen worden. Insbesondere sei der Antragstellerin in ausreichendem Maße rechtliches Gehör gewährt worden. Dass im Anschluss an ihre Stellungnahme in der Fraktion nicht (weiter) diskutiert worden sei, treffe ausweislich des Sitzungsprotokolls der Fraktionsversammlung schon tatsächlich nicht zu. Darüber hinaus vermittele das rechtliche Gehör kein weitergehendes Recht auf Diskussion im Sinne einer Pflicht der übrigen Abgeordneten, zu diskutieren, und ebenso keinen Anspruch auf einen bestimmten Inhalt der Diskussion. Maßgeblich sei, dass die Antragstellerin ihren Standpunkt habe vorbringen können und die übrigen Fraktionsmitglieder sich ausreichend informiert gesehen hätten, um eine verantwortungsvolle Entscheidung zu treffen.
In materieller Hinsicht setze der Fraktionsausschluss das Vorliegen eines „wichtigen Grundes“ voraus. Als solcher komme nur ein Verhalten in Betracht, das die wesentlichen Grundlagen und Ziele der Fraktion nachhaltig beeinträchtige. Dies könne insbesondere dann der Fall sein, wenn das Fraktionsmitglied das Vertrauensverhältnis so nachhaltig gestört habe, dass den anderen Fraktionsmitgliedern die weitere Zusammenarbeit nicht mehr zugemutet werden könne. Darüber hinaus könne ein „wichtiger Grund“ darin bestehen, dass ein Fraktionsmitglied durch sein Verhalten das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit nachhaltig schädige und die Außenwirkung der Fraktion damit beeinträchtige. Bei der Beurteilung der Frage, ob das Verhalten eines Fraktionsmitglieds einen „wichtigen Grund“ für einen Fraktionsausschluss darstelle, sei zu berücksichtigen, dass der Fraktion vermittelt durch die ihr zukommende Befugnis zur selbständigen und alleinigen Regelung ihrer inneren Angelegenheiten (Fraktionsautonomie) in der Einschätzung der Wirkung und der wertenden Beurteilung des Verhaltens der Abgeordneten ein weiter Spielraum zuzugestehen sei. Die Festlegung ihrer programmatischen Grundlagen und der Anforderungen in personeller Hinsicht unterliege nämlich weitgehend ihrer Definitionsmacht. Gleiches gelte für die Beurteilung, wann in der Öffentlichkeitswirkung ein schwerer Schaden für das Erscheinungsbild der Fraktion vorliege. Die gerichtliche Kontrolle habe daher die fraktionseigenen Wertungen zu achten und der Fraktion einen erheblichen Entscheidungsspielraum zu belassen. Es sei nicht Sache des Verfassungsgerichtshofs, seine Beurteilung an die Stelle derjenigen politischen und sonstigen, an innerfraktionellen Maßstäben ausgerichteten, Wertungen der Fraktion zu setzen. Die gerichtliche Prüfung eines „wichtigen Grundes“ habe sich insgesamt auf eine Willkürkontrolle zu beschränken. Als letztlich politische Entscheidung sei der Fraktionsausschluss verfassungsrechtlich alleine darauf überprüfbar, ob das Statusrecht des Abgeordneten in grundlegender Weise evident verkannt worden sei.
Gemessen an diesen Maßstäben sei der Fraktionsausschluss auch materiell verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zunächst seien die von der Fraktion über den Ausschluss zugrunde gelegten tatsächlichen Annahmen nicht evident unzutreffend. Es stehe insbesondere fest, dass die Antragstellerin die in Rede stehenden Äußerungen zur Unterrichtsversorgung und zum Thema „sexuelle Gewalt an Schulen“ ohne vorherige Abstimmung in der Fraktion getätigt habe und diese von den übrigen Fraktionsmitgliedern und von der Öffentlichkeit als politische Forderung bzw. als Vorwurf an die Landesregierung wahrgenommen worden seien. Es stehe auch fest, dass die Antragstellerin die im Ausschlussantrag niedergelegte Darlegung des Parlamentarischen Geschäftsführers zum Telefongespräch mit ihr habe zivilgerichtlich verbieten lassen wollen. Ebenso stehe fest, dass eine fraktionsinterne Aufarbeitung der Geschehnisse nicht komplikationslos möglich gewesen sei. Dass die Antragstellerin der Rede der Fraktionsvorsitzenden keinen Beifall gespendet habe, ergebe sich aus der von der Antragsgegnerin vorgelegten Presseberichterstattung und sei von der Antragstellerin nicht substantiiert in Frage gestellt worden.
Auf dieser Entscheidungsgrundlage habe die Fraktionsversammlung sodann in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise einen „wichtigen Grund“ für den Fraktionsausschluss bejaht. Unter Zugrundelegung des der Fraktion insoweit zukommenden Wertungsspielraums könne die Einschätzung, das Verhalten der Antragstellerin beschädige die vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Fraktion und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit, nicht als willkürlich beanstandet werden.
Die wirkungsvolle Zusammenarbeit in der Fraktion hänge nicht nur von wechselseitigen Loyalitäten in politischen Inhalten ab. Der Charakter der Fraktion als „Arbeitsgemeinschaft“ erfordere vielmehr auch ein anhaltendes wechselseitiges Vertrauen der Fraktionsmitglieder zueinander. Die einzelnen Fraktionsmitglieder dürften eine wechselseitige Rücksichtnahme erwarten. Nicht jedes Abweichen von der Fraktionslinie würde bereits zu einem Vertrauensverlust führen und die Fraktion müsse bis zu einem gewissen Grade auch interne Meinungsverschiedenheiten aushalten können. Im organisatorischen Zusammenschluss zu einer Fraktion gehe die Freiheit des Mandats und damit die notwendige Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Abgeordneten nicht verloren. Gerade dann aber erfordere eine effektive, vertrauensvolle Zusammenarbeit es jedoch, dass Meinungsverschiedenheiten miteinander sachlich besprochen würden. Es bedürfe in der Person eines jeden Einzelnen einer entsprechenden Streitkultur sowie eines Mindestmaßes an Diskretion.
Die Antragsgegnerin habe es bereits willkürfrei als schweren Loyalitätsverstoß und Grundlage für die Annahme eines irreparablen Vertrauensverlusts werten können, dass die Antragstellerin ihren – fraktionsinternen – Konflikt über die Reichweite innerfraktioneller Abstimmungs- und Kooperationspflichten durch die unmittelbare Einleitung eines zivilgerichtlichen Verfahrens in die Öffentlichkeit getragen habe. Dies insbesondere deshalb, weil unklar bleibe, warum sie damit angesichts des von ihr stets behaupteten Einigungswillens Fraktionsinterna nach außen getragen habe. Darüber hinaus widerspreche es dem für die Fraktionsarbeit erforderlichen Vertrauensverhältnis, dass die Antragstellerin mit ihren Äußerungen in der Öffentlichkeit auf wesentlichen Politikfeldern nicht mit der Fraktion abgestimmte politische Vorstöße getätigt habe und die Aufarbeitung der Geschehnisse unter ihrer Mitwirkung insgesamt jedenfalls nicht „reibungslos“ verlaufen sei. Mit dem Anschluss an eine Fraktion gehe der Abgeordnete eine politische Kooperationsverpflichtung ein, die eine Bereitschaft zur politischen Abstimmung erfordere. Diese Pflicht schließe auch die grundsätzliche Bereitschaft ein, gegebenenfalls persönliche inhaltliche Präferenzen zurückzustellen. Es diene zudem der „Fraktionssolidarität“ bzw. „Fraktionsloyalität“, abweichendes Verhalten zumindest vorab mitzuteilen und zu begründen. Dass das Verhalten der Antragstellerin dazu in Widerspruch stehe, habe die Antragsgegnerin willkürfrei annehmen können. Ob die unterbliebene Beifallsbekundung oder das vorzeitige Verlassen der Plenarsitzung im Hinblick auf das freie Mandat der Antragstellerin als Abgeordnete einen Fraktionsausschluss rechtfertigen könnten, bedürfe keiner weiteren Auseinandersetzung, weil die Antragsgegnerin klargestellt habe, dass dieses Verhalten auch nach ihrer eigenen Bewertung noch nicht zwingend einen Fraktionsausschluss rechtfertigen könnte. Auch die Wertung der Antragsgegnerin, die Antragstellerin habe das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit geschädigt, halte der verfassungsgerichtlichen Willkürkontrolle stand. Dabei sei es insbesondere nicht entscheidend, wie die Antragstellerin ihre Äußerungen „gemeint“ haben wolle, sondern als Abgeordnete habe sie vielmehr für die objektive Wirkung ihres Verhaltens einzustehen.