Familienkasse Niedersachsen-Bremen: Kindergeld in Deutschland während der ersten drei Monate nach Zuzug?

16. Dezember 2021 -

Generalanwalt Szpunar hat seine Schlussanträge in der Rechtssache C-411/20, Familienkasse Niedersachsen-Bremen zu der Frage vorgelegt, ob EU-Bürger während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts in Deutschland vom Anspruch auf Kindergeld ausgeschlossen werden dürfen, wenn sie keine inländischen Einkünfte erzielen.

Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 16.12.2021 ergibt sich:

Eine bulgarische Staatsangehörige beanstandet vor dem Finanzgericht Bremen die Ablehnung der Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit, ihr für die ersten drei Monate des (wiederholten) Aufenthalts der Familie in Deutschland Kindergeld zu gewähren, weil sie keine inländischen Einkünfte bezogen habe.

Laut dem Finanzgericht wird das durch Steuern finanzierte Kindergeld den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands unabhängig vom Elterneinkommen und unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers gewährt. Dem Kindergeld komme eine Doppelfunktion zu, nämlich die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes und, soweit es hierfür nicht erforderlich sei, die sozialrechtliche Förderung der Familie.

Eine Gesetzesänderung vom Juli 2019 habe jedoch eine Ungleichbehandlung zwischen einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründe, und einem deutschen Staatsangehörigen, der nach einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründe, eingeführt. Seitdem werde einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, wie der hier in Rede stehenden bulgarischen Staatsangehörigen, in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts die Gewährung von Kindergeld verweigert, wenn er nicht den Nachweis erbringe, dass er inländische Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit erziele, während ein deutscher Staatsangehöriger auch dann Kindergeld erhalte, wenn er keine solche Tätigkeit ausübe.

Da das Finanzgericht Zweifel hat, ob diese Ungleichbehandlung mit dem Unionsrecht vereinbar ist, hat es den Gerichtshof um Vorabentscheidung hierüber ersucht.

Generalanwalt Szpunar schlägt in seinen Schlussanträgen von heute dem Gerichtshof vor, dem Finanzgericht Bremen wie folgt zu antworten:

Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, während der ersten drei Monate seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat nur dann Familienleistungen beziehen kann, wenn er während dieses Zeitraums inländische Einkünfte erzielt, während ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats, der in diesen Mitgliedstaat zurückkehrt, nachdem er sich nach dem Unionsrecht in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, bei seiner Rückkehr ohne eine Einkünfte betreffende Voraussetzung Familienleistungen beanspruchen kann.

Nach Ansicht des Generalanwalts kann sich die Betroffene für den Zeitraum, auf den sich die Ablehnung ihres Antrags auf Kindergeld bezieht und die den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland entspricht, offensichtlich auf ein Recht auf rechtmäßigen Aufenthalt nach der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38 (Art. 6 Abs. 1) berufen. Denn danach habe „ein Unionsbürger … das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht“. Dieses Aufenthaltsrecht werde somit allen Unionsbürgern unabhängig davon zuerkannt, ob sie wirtschaftlich aktiv seien oder nicht.

Folglich genössen die Betroffene und ihre Kinder nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie im Anwendungsbereich des Vertrags das Recht auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats.

Generalanwalt Szpunar ist außerdem der Auffassung, dass das streitige Kindergeld -vorbehaltlich der vom Finanzgericht vorzunehmenden Überprüfungen – als „Leistung der sozialen Sicherheit“ einzustufen sei und nicht unter den Begriff der „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne der Ausnahmebestimmung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 falle. Daher könne sich der Aufnahmemitgliedstaat nicht auf diese Bestimmung stützen, um hinsichtlich der Gewährung dieser Leistungen von dem in Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Anspruch auf Gleichbehandlung, der den Unionsbürgern zustehe, abzuweichen.

Vielmehr sei die in Rede stehende Ungleichbehandlung allein unter dem Blickwinkel von Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 zu prüfen.

Im vorliegenden Fall sei ein Mitgliedstaat wie Deutschland nach der Verordnung Nr. 883/2004 zwar dafür zuständig, über die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld in seinem Hoheitsgebiet zu entscheiden, doch begründe Art. 4 dieser Verordnung ein Recht auf Gleichbehandlung und enthalte keine Ausnahme, die eine Ungleichbehandlung wie die hier in Rede stehende rechtfertigen könnte. Folglich könne sich ein Mitgliedstaat nicht seiner Verpflichtung entziehen, die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten und seiner eigenen Staatsangehörigen zu gewährleisten.

Der Generalanwalt ist auch davon überzeugt, dass die Ungleichbehandlung der beiden in Rede stehenden Situationen nicht mit Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 vereinbar sei. Unter diesen Umständen ist er der Ansicht, dass die in Rede stehende nationale Bestimmung eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit einführe, die mangels einer ausdrücklichen Ausnahme in der Verordnung Nr. 883/2004 nicht gerechtfertigt werden könne.