Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 14. April 2021 zum Aktenzeichen 1 BvR 1839/20 entschieden, dass das Gericht in Kindeswohlverfahren sich mit den Ausführungen eines Sachverständigen und dessen Gutachten auseinandersetzen muss.
Die Beschwerdeführerin ist die Mutter eines Kindes, für das die Eltern, die zusammengelebt hatten, zunächst gemeinsam sorgeberechtigt waren. Nach der Trennung der Eltern strengten sie jeweils mehrere gerichtliche Verfahren an, unter anderem das bei dem Familiengericht geführte Hauptsacheverfahren zum Sorgerecht.
Zwischen dem Kind und der Beschwerdeführerin kam es zu einem Bruch, nach dem es den mütterlichen Haushalt verließ.
Das den Eltern nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich gegenüber dem Staat gewährleistete Freiheitsrecht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder dient in erster Linie dem Kindeswohl, dass zugleich oberste Richtschnur für die Ausübung der Elternverantwortung ist.
Der Schutz des Elternrechts, das Vater und Mutter gleichermaßen zukommt, erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des
Aus der grundrechtlichen Gewährleistung des Elternrechts und aus der Verpflichtung des Staates, über dessen Ausübung im Interesse des Kindeswohls zu wachen, einerseits und aus dem Gebot, möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung zu erkennen andererseits, ergeben sich Folgerungen für das Prozessrecht und seine Handhabung in Sorgerechtsverfahren.
Die Fachgerichte sind demnach verfassungsrechtlich nicht stets gehalten, ein Sachverständigengutachten einzuholen
Die vom Oberlandesgericht getroffene Sorgerechtsentscheidung genügt bei Anlegen dieser Maßstäbe den Anforderungen aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auch unter Berücksichtigung des zurückgenommenen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs nicht. Es ist ohne eine dem Verfassungsrecht genügende Begründung von den Einschätzungen beider Sachverständiger über die dem Kindeswohl am besten dienende Entscheidung zum Sorgerecht abgewichen und hat dem geäußerten Kindeswillen maßgebliche Bedeutung bei der Sorgerechtsentscheidung zugemessen, ohne ausreichend tragfähig zu begründen, dass dieser Wille mit dem Wohl des Kindes vereinbar ist
Das Oberlandesgericht begründet auch nicht eingehend seine Wertung, der Sachverständige habe nicht schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, auf welche Weise es zu der Übertragung der dem Vater zugeschriebenen Störung auf das Kind komme und welche konkreten negativen Auswirkungen sich daraus für das Kindeswohl ergeben sollen. Damit trägt es dem Gutachten nicht hinreichend Rechnung. Der Sachverständige hat seine Einschätzung ausführlich beschrieben, dass der Vater – seinen eigenen Vorstellungen entsprechend – dem Kind vermittle, die Mutter sei ein böser Mensch, von dem und dessen Familie man sich fernhalten müsse, weil von ihnen Gefahr drohe. Zugleich bewirke der Vater den Abbruch von Kontakten des Kindes zu bisherigen Vertrauenspersonen und fördere umgekehrt ausschließlich den Kontakt zu solchen Personen, die die Sichtweise des Vaters teilen und ihre Informationen über die familiären Verhältnisse ausschließlich vom Vater erhalten. Diese Einschätzungen hat der Sachverständige A. außer an dem vollständigen Beziehungsabbruch des Kindes zu seiner Mutter und deren Familie auch an dem Verhältnis zum Verfahrensbeistand sowie der Verweigerung einer weiteren Begutachtung des Kindes durch die Sachverständige verdeutlicht.
Damit hat der Sachverständige ersichtlich nach seiner fachlichen Einschätzung konkrete Einwirkungen des Vaters auf das Kind beschrieben und Folgen daraus für dieses dargelegt. Die vom Sachverständigen angenommenen Folgen stehen mit dem Kindeswohl in Zusammenhang. Dieses fordert, das Kind darin zu unterstützen, zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu werden. Verhaltensweisen eines Elternteils, die darauf abzielen, dem Kind einseitig ein bestimmtes Bild der elterlichen beziehungsweise familiären Verhältnisse zu vermitteln und lediglich Kontakte des Kindes mit Personen zuzulassen, die die Positionen des beeinflussenden Elternteils vertreten, sind mit dem Ziel, dem Kind die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu ermöglichen, kaum zu vereinbaren. Das Oberlandesgericht war zwar auch insoweit nicht von Verfassungs wegen gehalten, der Einschätzung des Sachverständigen zu folgen. Weicht es aber davon ab, bedarf es einer eingehenden Begründung, die auf zentrale Erwägungen des Sachverständigengutachtens eingeht. Daran fehlt es auch hinsichtlich der vom Sachverständigen A. angenommenen Zusammenhänge zwischen der Einflussnahme des Vaters auf das Kind und den Folgen für dessen Wohl.
Das gilt auch für weitere Ausführungen des Sachverständigen über kindeswohlgefährdende Verhaltensweisen des Vaters. So wird in dem Gutachten näher dargelegt, dass der Vater das Kind in einer nicht altersangemessenen Weise ganz erheblich in den Elternkonflikt einbezieht und diesem etwa im familiengerichtlichen Verfahren gewechselte Schriftsätze zu lesen gibt. Damit werde das Kind erheblich überfordert und dessen Loyalitätskonflikt verstärkt. Mit diesen für die Beurteilung des Kindeswohls bedeutsamen Umständen setzt sich das Oberlandesgericht nicht in erkennbarer Weise auseinander.
Mit den näheren Ausführungen beider Sachverständiger zum Vorliegen eines induzierten und nicht mit dem Wohl des Kindes zu vereinbarenden Kindeswillens hat sich das Oberlandesgericht angesichts der Abweichung von beiden Gutachten ebenfalls nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise befasst. Es hat insbesondere nicht hinreichend erwogen, dass die in der Anhörung des Kindes gezeigten emotionalen Belastungen ‒ wie bereits von der Sachverständigen W. in Zusammenhang mit der Frage der Beachtlichkeit des Kindeswillens ausgeführt ‒ Folge von aus einem starken Loyalitätskonflikt herrührenden Schuldgefühlen des Kindes sein können. Aus den bereits dargelegten Gründen enthält die Beschwerdeentscheidung auch keine eingehende Begründung zu den dezidierten Ausführungen beider Sachverständiger, insbesondere des Sachverständigen A., zu einer Beeinflussung des Kindeswillens durch den Vater und eines Teils der dessen Position vertretenden Fachkräfte.
Zwar hat das Oberlandesgericht im verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt beanstandungsfrei angenommen, dass die Nichtberücksichtigung eines beeinflussten Kindeswillens dann gerechtfertigt ist, wenn die manipulierten Äußerungen des Kindes die wirklichen Bindungsverhältnisse nicht zutreffend bezeichnen. Ein Kindeswille kann jedoch auch dann unbeachtlich sein, wenn dessen Befolgung seinerseits mit dem Kindeswohl nicht vereinbar ist und zu einer Kindeswohlgefährdung führen würde. Gerade davon sind beide Sachverständige ausgegangen. Dem hat das Oberlandesgericht, wie dargelegt, keine eingehenden Erwägungen entgegengestellt, die ein Abweichen von der diesbezüglichen Einschätzung der Sachverständigen verfassungsrechtlich tragfähig begründeten.