Das Landessozialgericht Baden-Württemberg in Stuttgart hat am 16.12.2020 zum Aktenzeichen L 1 U 1664/20 entschieden, dass eine ehrenamtliche Pflegekraft, die für ihre zu pflegenden Eltern Nahrungsmittel und Medikamente besorgt hatte und auf dem Rückweg mit dem Fahrrad gestürzt war und sich schwer verletzt hatte, als Arbeitsunfall anzuerkennen ist.
Aus der Pressemitteilung des LSG BW vom 15.01.2020 ergibt sich:
Die Klägerin K pflegte ihre Eltern und war bei der Pflegekasse angemeldet. An einem Sonntag im Mai 2008 besorgte sie mit dem Fahrrad bei einem befreundeten Arzt privat sowohl ein Schmerzmedikament für ihren Vater als auch eine kleine Menge Wildfleisch. Auf dem Rückweg stürzte sie mit dem Fahrrad und erlitt Verletzungen am linken Knie. Der spätere Heilungsverlauf gestaltete sich schwierig. Womöglich hat der Unfall erhebliche bleibende Schäden zur Folge. Unmittelbar nach dem Unfall gab K in ihrem Antrag gegenüber der Unfallkasse an, die Fahrradfahrt habe sowohl der Medikamenten- als auch der Nahrungsmittelbeschaffung gedient. Bei einem späteren Gespräch mit einem Mitarbeiter der Unfallkasse rückte sie auf Nachfrage das Schmerzmittel in den Vordergrund; das Fleisch habe sie nur bei dieser Gelegenheit mitgenommen. Die Unfallkasse lehnte daraufhin noch 2008 die Anerkennung als Arbeitsunfall ab, weil eine ehrenamtliche Pflegeperson nur bei der Besorgung von Nahrungsmitteln, nicht aber von Medikamenten unfallversichert sei.
Es folgten mehrere Rechtsstreitigkeiten vor dem SG Mannheim, dem Landessozialgericht und (wegen Verfahrensfragen) auch vor dem BSG. Dabei stritten die Parteien nicht nur darum, welche der beiden Verrichtungen nach der „Handlungstendenz“ von K im Vordergrund stand, sondern auch darum, ob das Wildfleisch wirklich für die zu pflegenden Eltern bestimmt und für die Versorgung derselben erforderlich war. Das Sozialgericht gab K zuletzt Recht: Die (unstreitig unfallversicherte) Besorgung des Fleisches sei der wesentliche Zweck der Fahrradfahrt gewesen.
Das LSG Stuttgart hat die Entscheidung des Sozialgerichts bestätigt und die Unfallkasse Baden-Württemberg verurteilt, den Fahrradunfall als versicherten Arbeitsunfall anzuerkennen.
Nach Auffassung des Landessozialgerichts hat zwar keiner der beiden Zwecke der Fahrradfahrt im Vordergrund gestanden, weil es kaum möglich ist, bei einer solchen einheitlichen Verrichtung verschiedene „Handlungstendenzen“ gegeneinander abzugrenzen. Dass K zeitweise angegeben hatte, die Besorgung der Medikamente sei Hauptzweck gewesen, gereiche ihr nicht zum Nachteil. Diese Aussage dürfte sie getan haben, weil aus Laiensicht eher die Besorgung von Medikamenten versichert sei als die Nahrungsmittelbesorgung. Der Lebenswirklichkeit hätten eher die allerersten Angaben der K in ihrem Antrag bei der Unfallkasse entsprochen, dass sie beide Zwecke verfolgt habe. Im Übrigen sei es unschädlich, dass die Nahrungsmittelbeschaffung nicht im Vordergrund gestanden habe. Denn auch bei der Besorgung von Schmerzmitteln handle es sich um eine unfallversicherte Tätigkeit einer Pflegeperson. Daher sei es auf die Frage der Handlungstendenz nicht mehr angekommen.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Wegen grundsätzlicher Bedeutung wurde die Revision zum BSG zugelassen. Die Unfallkasse wird, wenn das Urteil rechtskräftig wird, im Nachgang über Leistungen an K entscheiden, etwa über die Erstattung von Behandlungskosten, eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme oder eine Verletztenrente.