Der Europäische Gerichtshof hat am 16.12.2021 zum Aktenzeichen C-203/20 entschieden, dass der Grundsatz ne bis in idem der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gegen die Personen, die der Entführung des Sohnes eines ehemaligen slowakischen Präsidenten angeklagt werden, nicht entgegensteht.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 222/21 vom 16.12.2021 ergibt sich:
Die Einstellung der Strafverfolgung aufgrund einer Amnestie und deren Aufhebung stehen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht entgegen, da die nationalen Justizbehörden noch nicht über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Angeklagten entschieden haben.
Ehemalige Mitglieder von slowakischen Sicherheitsdiensten werden in der Slowakei angeklagt, im Jahr 1995 eine Reihe von Straftaten, einschließlich einer Entführung einer Person ins Ausland, begangen zu haben, wobei das Opfer der Sohn des seinerzeit amtierenden slowakischen Präsidenten gewesen sein soll.
Am 3. März 1998 erließ der slowakische Regierungschef, der seinerzeit aufgrund des Ablaufs der Amtszeit des slowakischen Präsidenten dessen Befugnisse wahrnahm, eine Amnestie, die diese Straftaten erfasste. Die im Zusammenhang mit den fraglichen Straftaten eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen wurden daher am 29. Juni 2001 rechtskräftig eingestellt. Gemäß den slowakischen Rechtsvorschriften hatte diese Einstellung die Wirkungen eines freisprechenden Urteils.
Mit einem Beschluss vom 5. April 2017 nahm die Národná rada Slovenskej republiky (Nationalrat der Slowakischen Republik) diese Amnestie zurück. Der Ústavný súd Slovenskej republiky (Verfassungsgericht der Slowakischen Republik) befand anschließend, dass dieser Beschluss mit der Verfassung vereinbar sei. Die Strafverfahren, die aufgrund dieser Amnestie eingestellt worden waren, lebten daher wieder auf.
Der mit diesen Verfahren befasste Okresný súd Bratislava III (Bezirksgericht Bratislava III, Slowakei) hat die Absicht, einen Europäischen Haftbefehl gegen einen der Angeklagten auszustellen. In diesem Zusammenhang fragt er den Gerichtshof im Wesentlichen, ob unter den Umständen des vorliegenden Verfahrens zum einen die Ausstellung dieses Europäischen Haftbefehls und zum anderen die Rücknahme der Amnestie mit dem Unionsrecht, und insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, vereinbar seien. Das slowakische Gericht begründet seine Zweifel mit dem Grundsatz ne bis in idemx1, da das gegen die betroffene Person wegen der fraglichen Straftaten eingeleitete Strafverfahren rechtskräftig eingestellt worden sei.
Mit seinem Urteil vom heutigen Tag stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass das Ausgangsverfahren insoweit unter das Unionsrecht fällt, als der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl² und somit die Bestimmungen der Charta über den Grundsatz ne bis in idem, wie er unter anderem durch den Rahmenbeschluss durchgeführt wird, auf das Verfahren zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls Anwendung finden können, das das slowakischen Gericht einzuleiten beabsichtigt.
Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Grundsatz ne bis in idem nur in Fällen geltend gemacht werden kann, in denen die strafrechtliche Verantwortlichkeit der betroffenen Person geprüft wurde und eine Entscheidung ihr gegenüber ergangen ist. Denn nur diese Auslegung steht mit dem legitimen Ziel der Vermeidung der Straflosigkeit von Personen, die eine Straftat begangen haben, in Einklang.
Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass die Entscheidung vom 29. Juni 2001, mit der das Strafverfahren gegen die betroffenen Personen eingestellt wurde, nach dem nationalen slowakischen Recht die Wirkungen eines Freispruchs hat.
Der Gerichtshof ist jedoch der Auffassung, dass unabhängig von dem Wesen und den Wirkungen dieser Entscheidung im slowakischen Recht aus den ihm vorliegenden Akten hervorzugehen scheint, dass diese Entscheidung nur die Wirkung hatte, die genannte Strafverfolgung einzustellen, bevor sich die slowakischen Gerichte zu der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der beschuldigten Personen hatten äußern können.
Unter diesen Umständen befindet der Gerichtshof, dass, da die Entscheidung vom 29. Juni 2001 vor der Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der betreffenden Angeklagten erlassen wurde, der Grundsatz ne bis in idem der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls in Bezug auf diese Personen nicht entgegensteht.
Schließlich ist der Gerichtshof der Ansicht, dass nationale Rechtsvorschriften, die ein Verfahren legislativer Art über die Rücknahme einer Amnestie sowie ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Vereinbarkeit dieser Rücknahme mit der Verfassung vorsehen, nicht das Unionsrecht durchführen, so dass solche Verfahren nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.
1 Gemäß diesem Grundsatz darf niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.
2 Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1).