Der Europäische Gerichtshof hat am 25.11.2021 zum Aktenzeichen C-488/20 entschieden, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Genehmigung für den Parallelimport eines Arzneimittels ein Jahr nach Erlöschen der Bezugszulassung von Rechts wegen erlischt, ohne dass geprüft wird, ob eine Gefahr für die Gesundheit und das Leben von Menschen besteht. Das Erlöschen von Rechts wegen geht hier über das zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen Erforderliche hinaus.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 209/2021 vom 25.11.2021 ergibt sich:
Delfarma ist ein Unternehmen, das im Parallelimport von Arzneimitteln auf dem polnischen Markt tätig ist. Mit Bescheid des polnischen Gesundheitsministers aus dem Jahr 2011 wurde Delfarma eine Genehmigung für den Parallelimport des Arzneimittels Ribomunyl, eines Granulats zur Herstellung einer Lösung zum Einnehmen, 0,750 mg + 1,125 mg, aus der Tschechischen Republik erteilt. Die Genehmigung wurde 2016 mit Bescheid des Prezes Urzędu Rejestracji Produktów Leczniczych, Wyrobów Medycznych i Produktów Biobójczych (Leiter der Behörde für die Zulassung von Arzneimitteln, medizinischen Erzeugnissen und Biozidprodukten, Polen) (im Folgenden: Behördenleiter) verlängert. Sie erfolgte auf der Grundlage einer Zulassung für das Referenzarzneimittel Ribomunyl für das Gebiet der Republik Polen. Da diese Zulassung 2018 erloschen war, stellte der Behördenleiter mit Bescheid vom 24. September 2019 auf der Grundlage des Arzneimittelgesetzes das Erlöschen der Genehmigung für den Parallelimport des Arzneimittels Ribomunyl ab dem 25. September 2019 fest. Auf einen von Delfarma gestellten Antrag auf Überprüfung wurde dieser Bescheid mit Bescheid des Behördenleiters vom 18. November 2019 bestätigt. Gegen diesen Bescheid erhob Delfarma Klage. In diesem Zusammenhang hat der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau, Polen) dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
In seinem Urteil vom 25.11.2021 erläutert der Gerichtshof, dass ein Parallelimport dann vorliegt, wenn wie im Ausgangsverfahren ein Arzneimittel, das in einem Mitgliedstaat zugelassen wurde, in einen anderen Mitgliedstaat eingeführt wird, in dem ein im Wesentlichen gleiches Arzneimittel bereits zugelassen ist. Da in einem solchen Fall das Arzneimittel nicht als erstmals im Einfuhrmitgliedstaat in den Verkehr gebracht angesehen werden kann, fällt diese Situation nicht unter die Richtlinie 2001/831. Sie fällt hingegen unter die Bestimmungen des AEU-Vertrags über den freien Warenverkehr, insbesondere die Art. 34 und 36 AEUV, nach denen, kurz gesagt, mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen und alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten grundsätzlich verboten sind, es sei denn, sie sind gerechtfertigt, etwa zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen.
Der Gerichtshof führt weiter aus, dass eine Bestimmung, wonach die Genehmigung für den Parallelimport eines Arzneimittels von Rechts wegen ein Jahr nach Erlöschen der Bezugszulassung im betreffenden Mitgliedstaat erlischt, eine Beschränkung des freien Warenverkehrs darstellt.
Was die Rechtfertigung dieser Beschränkung betrifft, kann eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung nur dann u. a. mit dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gerechtfertigt werden, wenn sie geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das dazu Erforderliche hinausgeht. Das in der betreffenden polnischen Regelung vorgesehene Erlöschen der Bezugszulassung beruht jedoch nicht auf der Prüfung der konkreten Gefahren, die sich für die Gesundheit und das Leben von Menschen ergeben könnten, wenn das Arzneimittel auf dem Markt des Einfuhrmitgliedstaats belassen wird, und erst recht nicht darauf, dass solche Gefahren bestehen; daher gibt es keinen besonderen Grund im Zusammenhang mit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, aus dem die Genehmigung für den Parallelimport von Arzneimitteln aufgrund des Erlöschens der Bezugszulassung von Rechts wegen erlöschen sollte.
Der Gerichtshof prüft das Vorbringen, wonach bei Erlöschen der Bezugszulassung die im Einfuhrmitgliedstaat für die Pharmakovigilanz zuständige nationale Behörde über eine nicht unerhebliche Informations- und Datenquelle weniger in Bezug auf die Sicherheit des fraglichen Arzneimittels verfügt, und stellt fest, dass dieser Umstand keinen Grund allgemeiner Art darstellt, durch den das von der betreffenden nationalen Regelung vorgesehene Erlöschen von Rechts wegen gerechtfertigt werden könnte. Sofern nämlich das fragliche Arzneimittel in einem Mitgliedstaat auf der Grundlage einer gültigen Zulassung noch im Verkehr ist, kann die Behörde von den anderen nationalen Behörden sachdienliche Informationen erhalten, da das Unionsrecht2 der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), den zuständigen nationalen Behörden und dem Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen vorschreibt, sich gegenseitig zu informieren, falls erkannt wird, dass neue oder veränderte Risiken bestehen oder sich das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Arzneimitteln geändert hat. Die Behörde hat auch Zugang zu den regelmäßigen aktualisierten Unbedenklichkeitsberichten. Diese werden den zuständigen nationalen Behörden nämlich in einem Datenarchiv zur Verfügung gestellt. Außerdem sind die Nebenwirkungen von Arzneimitteln, die von Zulassungsinhabern, Angehörigen der Gesundheitsberufe oder Patienten gemeldet wurden, in der EudraVigilance-Datenbank aufgeführt, die den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten uneingeschränkt offensteht.
Die für die Pharmakovigilanz des Einfuhrmitgliedstaats zuständige nationale Behörde wird außerdem informiert, wenn ein Arzneimittel im Ausfuhrmitgliedstaat oder in den Mitgliedstaaten, in denen es aufgrund einer gültigen Zulassung noch im Verkehr ist, Anlass zu ernsten Bedenken gibt. Dank einem Dringlichkeitsverfahren3 werden nämlich alle Mitgliedstaaten informiert, falls ein Arzneimittel Anlass zu Bedenken gibt, die dazu führen, dass Maßnahmen betreffend seine Zulassung in Betracht gezogen werden. Außerdem hat dem Gerichtshof zufolge das Fehlen einer Bezugszulassung im Einfuhrmitgliedstaat nicht zur Folge, dass die Packungsbeilage des parallel eingeführten Arzneimittels nicht mehr aktualisiert werden kann. Diese Aktualisierung muss nämlich vom Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen im Ausfuhrmitgliedstaat vorgenommen werden; die Übersetzung wird durch die Verwendung einer international anerkannten Terminologie erleichtert.
Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass es über das zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen Erforderliche hinausgeht, wenn die Genehmigung für den Parallelimport eines Arzneimittels allein wegen des Erlöschens der Bezugszulassung von Rechts wegen erlischt, ohne dass die mit dem Arzneimittel verbundenen Risiken geprüft werden.
In Anbetracht dessen, dass die Informationen zugänglich sind, überschreiten der mit der Forschung und der Analyse der Informationen über das Arzneimittel einhergehende Verwaltungsaufwand und die damit verbundenen öffentlichen Ausgaben die Grenzen dessen, was von den für die Pharmakovigilanz zuständigen Behörden vernünftigerweise verlangt werden kann, selbst dann nicht, wenn zahlreiche Arzneimittel parallel eingeführt werden.
1 Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung einesGemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. 2001, L 311, S. 67, sowie Berichtigung ABl. 2014, L 239, S. 81) in der durch die Richtlinie 2012/26/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 (ABl. 2012, L 299, S. 1) geänderten Fassung.
2 Art. 28a Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur (ABl. 2004, L 136, S.1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1235/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2010 (ABl. 2010, L 348, S. 1) geänderten Fassung.
3 Eingeführt mit den Art. 107i, 107j und 107k der vorgenannten Richtlinie 2001/83.