Der Europäische Gerichtshof hat am 15.04.2021 zum Aktenzeichen C-30/19 entschieden, dass das Unionsrecht einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, die ein mit einer Klage auf Schadensersatz wegen des Vorwurfs einer Diskriminierung befasstes Gericht daran hindert, diese Diskriminierung festzustellen, wenn der Beklagte sich zur Zahlung des geforderten Schadensersatzes bereit erklärt, ohne das Vorliegen dieser Diskriminierung einzuräumen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 54/2021 vom 15.04.2021 ergibt sich:
Allein die Zahlung eines Geldbetrags vermag nicht den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz einer Person zu gewährleisten, die die Feststellung begehrt, dass sie Opfer einer Diskriminierung wurde.
Im Jahr 2015 wurde ein Fluggast chilenischer Herkunft mit Wohnsitz in Stockholm (Schweden) bei einem von der Fluggesellschaft Braathens Regional Aviation AB durchgeführten Flug innerhalb Schwedens aufgrund einer Entscheidung des Bordkommandanten einer zusätzlichen Sicherheitskontrolle unterzogen. Der Diskrimineringsombudsman (Bürgerbeauftragter für Diskriminierungangelegenheiten, Schweden) beantragte im Namen dieses Fluggasts, der sich als Opfer einer Diskriminierung aus Gründen sieht, die im Zusammenhang mit seinem Aussehen und seiner ethnischen Zugehörigkeit stehen, beim Stockholms tingsrätt (Gericht erster Instanz Stockholm, Schweden), Braathens wegen Diskriminierung zur Zahlung von Schadensersatz an den Fluggast zu verurteilen.
Braathens war bereit, den geforderten Betrag zu zahlen, jedoch ohne eine Diskriminierung anzuerkennen. Das Stockholms tingsrätt verurteilte Braathens daraufhin zur Zahlung des geforderten Betrags, erklärte aber die Anträge des Diskrimineringsombudsman, die auf den Erlass eines das Vorliegen einer Diskriminierung bestätigenden Feststellungsurteils gerichtet waren, für unzulässig. Nach dem schwedischen Verfahrensrecht sei das Gericht durch das Anerkenntnis von Braathens gebunden und daher verpflichtet, den Rechtsstreit ohne Prüfung des Vorliegens einer etwaigen Diskriminierung zu entscheiden. Nachdem seine gegen das Urteil des Stockholms tingsrätt eingelegte Berufung ohne Erfolg geblieben war, legte der Diskrimineringsombudsman beim vorlegenden Gericht, dem Högsta domstol (Oberster Gerichtshof, Schweden), ein Rechtsmittel ein.
Dem Högsta domstol stellte sich die Frage, ob die schwedische Rechtsvorschrift vereinbar ist mit der Richtlinie 2000/43 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. L 180, 22) in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), in dem das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verankert ist. Daher beschloss er, den Gerichtshof mit der Frage zu befassen, ob im Fall eines Anerkenntnisses der Schadensersatzforderung des Klägers durch den Beklagten das Gericht gleichwohl die Möglichkeit haben müsse, das Vorliegen einer Diskriminierung auf Antrag der Partei zu prüfen, die sich für diskriminiert hält.
Würdigung durch den Gerichtshof
Vorab weist der Gerichtshof darauf hin, dass Zweck der Richtlinie 2000/43 die Schaffung eines Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten ist. Die Beachtung dieses Grundsatzes erfordert in Bezug auf Personen, die sich als Opfer einer solchen Diskriminierung sehen, die Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Schutzes ihres Rechts auf Gleichbehandlung, unabhängig davon, ob diese Personen unmittelbar oder über einen Verband, eine Organisation oder eine andere juristische Person handeln. Zudem muss die zur Umsetzung dieser Richtlinie in die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats geschaffene Sanktionsregelung einen effektiven und wirksamen rechtlichen Schutz der aus der Richtlinie hergeleiteten Rechte sicherstellen. Die Härte der Sanktionen muss der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.
Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass die Art. 7 und 15 der Richtlinie 2000/43 in Verbindung mit Art. 47 der Charta einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die ein Gericht, das mit einer Klage auf Schadensersatz wegen des Vorwurfs einer gemäß dieser Richtlinie verbotenen Diskriminierung befasst ist, daran hindert, den Antrag auf Feststellung des Vorliegens dieser Diskriminierung zu prüfen, wenn der Beklagte sich zur Zahlung des geforderten Schadensersatzes bereit erklärt, ohne jedoch das Vorliegen einer Diskriminierung einzuräumen.
Erstens geht aus Art. 7 der Richtlinie 2000/43 hervor, dass jede Person, die sich als Opfer einer Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnische Herkunft sieht, die Möglichkeit haben muss, im Rahmen eines Verfahrens zur Geltendmachung ihrer Rechte aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz eine gerichtliche Entscheidung über eine etwaige Verletzung dieser Rechte zu erwirken, wenn der Beklagte die ihm vorgeworfene Diskriminierung nicht einräumt. Somit reicht allein die Zahlung eines Geldbetrags nicht aus, um den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz einer Person zu gewährleisten, die die Feststellung begehrt, dass sie Opfer einer solchen Verletzung wurde.
Zweitens ist eine solche Rechtsvorschrift auch weder mit der Wiedergutmachungs- noch mit der Abschreckungsfunktion vereinbar, die die von den Mitgliedstaaten nach Art. 15 der Richtlinie 2000/43 vorgesehenen Sanktionen haben müssen. Die Zahlung eines Geldbetrags reicht nämlich nicht aus, um dem Anliegen einer Person gerecht zu werden, der es vor allem darum geht, zur Wiedergutmachung des von ihr erlittenen immateriellen Schadens feststellen zu lassen, dass sie Opfer einer Diskriminierung war. Zudem kann durch die Verpflichtung zur Zahlung eines Geldbetrags keine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Urheber einer Diskriminierung sichergestellt werden, wenn der Beklagte, wie im vorliegenden Fall, das Vorliegen einer Diskriminierung bestreitet, aber davon ausgeht, dass es für ihn kostengünstiger ist und sein Image weniger beeinträchtigt, wenn er den vom Kläger geforderten Schadensersatz zahlt. Der Gerichtshof erläutert auch, dass sich durch die Möglichkeit, ein Strafverfahren anzustrengen, aufgrund der diesem eigenen Zielsetzungen und der ihm immanenten Beschränkungen kein Ausgleich dafür schaffen lässt, dass die zivilrechtlichen Rechtsbehelfe den Anforderungen der Richtlinie nicht genügen.
Drittens betont der Gerichtshof, dass diese Auslegung nicht durch verfahrensrechtliche Grundsätze oder Erwägungen wie den Dispositionsgrundsatz, den Grundsatz der Verfahrensökonomie und das Bemühen, die gütliche Beilegung von Streitigkeiten zu fördern, in Frage gestellt wird. Zum einen bewirken nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, dass die Herrschaft über den Rechtsstreit auf den Beklagten übergeht, wobei der Kläger bei einer Einwilligung des Beklagten in die Zahlung des geforderten Schadensersatzes nicht mehr erreichen kann, dass das Gericht über die Grundlage seiner Forderung entscheidet, und er sich auch der Beendigung des von ihm eingeleiteten Verfahrens nicht mehr widersetzen kann. Zum anderen verstieße ein nationales Gericht keineswegs gegen den Dispositionsgrundsatz, wenn es trotz der Einwilligung des Beklagten in die Zahlung des vom Kläger geforderten Schadensersatzes ein Vorliegen der von diesem geltend gemachten Diskriminierung prüfte, denn eine solche Prüfung betrifft die Grundlage für die Schadensersatzforderung, die Teil des Streitgegenstands ist.
Schließlich weist der Gerichtshof viertens darauf hin, dass das Unionsrecht grundsätzlich die Mitgliedstaaten nicht zwingt, vor ihren nationalen Gerichten neben den nach nationalem Recht bereits bestehenden Rechtsbehelfen neue zu schaffen, um den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu gewährleisten. Er stellt jedoch fest, dass es im vorliegenden Fall für die Einhaltung des Unionsrechts nicht erforderlich ist, einen neuen Rechtsbehelf einzuführen, sondern dass lediglich vom nationalen Gericht verlangt wird, die Verfahrensvorschrift unangewendet zu lassen, die es daran hindert, über das Vorliegen der geltend gemachten Diskriminierung zu entscheiden, weil diese Regelung nicht nur mit den Art. 7 und 15 der Richtlinie 2000/43, sondern auch mit Art. 47 der Charta unvereinbar ist. Denn durch diese Artikel der Richtlinie wird lediglich das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf konkretisiert, das aus sich heraus Wirkung entfaltet, um ein Recht zu verleihen, das in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen geltend gemacht werden kann.