Nach Ansicht von Generalanwalt Pikamäe im Verfahren C-483/20 vor dem Europäischen Gerichtshof läuft es dem Unionsrecht zuwider, dass ein Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz automatisch für unzulässig erklärt, wenn der Flüchtlingsstatus dem Antragsteller bereits in einem anderen Mitgliedstaat zuerkannt worden ist.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 167/2021 vom 30.09.2021 ergibt sich:
Das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens sei im Zusammenhang mit der Verpflichtung zu betrachten, das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen, und könne es rechtfertigen, einen solchen Antrag für zulässig zu erachten und in die Sachprüfung einzutreten.
Nachdem ein syrischer Staatsangehöriger in Österreich als Flüchtling anerkannt worden war, begab er sich nach Belgien zu seinen beiden Töchtern, von denen die eine minderjährig war und die beide subsidiären Schutz genossen. Dort stellte er erneut einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde gemäß den belgischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes1 für unzulässig erklärt, und zwar in Anbetracht dessen, dass der Flüchtlingsstatus bereits im erstgenannten Mitgliedstaat anerkannt worden sei.
Der genannte syrische Staatsangehörige focht diese ablehnende Entscheidung, die ohne eine Sachprüfung des Antrags ergangen war, vor den belgischen Gerichten an und rief nach dem Rat für Ausländerstreitsachen den belgischen Staatsrat an. Der Staatsrat hat den Gerichtshof sodann um Vorabentscheidung ersucht.
Im Wesentlichen bittet der Staatsrat den Gerichtshof um Klarstellung, ob im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)2 in einer Situation wie derjenigen, in der sich der in Rede stehende syrische Staatsangehörige befindet, die Richtlinie 2013/32 und die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes3 nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen ein Antrag auf internationalen Schutz deshalb für unzulässig erklärt werden kann, weil dieser Schutz von einem anderen Mitgliedstaat bereits gewährt worden ist.
In seinen Schlussanträgen vom 30.09.2021 vertritt Generalanwalt Pikamäe die Auffassung, dass es dem Unionsrecht zuwiderlaufe, dass ein Mitgliedstaat einen Antrag auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus schon deshalb als unzulässig ablehnen könne, weil dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat bereits ein solcher Status zuerkannt worden sei, wenn der Antragsteller im Fall der Rückführung in diesen anderen Staat ernsthaft Gefahr laufe, eine Behandlung zu erfahren, die sich nicht mit dem in Art. 7 der Charta vorgesehenen Recht auf Achtung des Familienlebens in Einklang bringen lasse. Das genannte Recht sei in Verbindung mit der Verpflichtung zu betrachten, das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen. Dieses sei in Art. 24 der Charta und in der Gesamtheit der Regelwerke verankert, die das Gemeinsame Europäische Asylsystem bildeten.
Folglich müsse der Mitgliedstaat, in dem ein neuerlicher Antrag auf internationalen Schutz gestellt werde, beurteilen, ob eine derartige Gefahr tatsächlich vorliege, und als Erstes dem Antragsteller die Möglichkeit einräumen, bei einer persönlichen Anhörung zur Zulässigkeit des Antrags alle Umstände, insbesondere persönlicher Art, vorzutragen, die das Vorliegen der fraglichen Gefahr bestätigen könnten.
Bei der Feststellung, ob eine ernsthafte Gefahr der Verletzung dieses Grundrechts auf Achtung des Familienlebens bestehe, die im Zusammenhang mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls zu beurteilen sei, seien sodann zwei Faktoren zu beachten: zum einen die Rechtsstellung der internationalen Schutz beantragenden Person in dem Mitgliedstaat, in dem sie sich gemeinsam mit dem Familienangehörigen aufhalte, dem dieser Schutz zuerkannt worden sei, und zum anderen die Art der Beziehungen, die der Betreffende zu diesem Familienmitglied unterhalte.
Fehle es dem Betreffenden an einem Titel, der ihm im Aufnahmemitgliedstaat einen sicheren und dauerhaften Aufenthalt sowie infolgedessen den Bestand des Familienverbands garantiere, müsse die zuständige nationale Behörde die in Rede stehende familiäre Situation anhand aller relevanter Faktoren bewerten. Dazu gehörten insbesondere das Alter des Kindes, seine Situation in dem in Rede stehenden Land und die Frage, inwieweit es von seinem Elternteil abhängig sei. Hierbei sei die körperliche und emotionale Entwicklung des Kindes ebenso zu berücksichtigen wie der Grad seiner affektiven Bindung an sein Elternteil. Nach alledem lasse sich insgesamt bestimmen, inwiefern für die Eltern-Kind-Beziehung und das innere Gleichgewicht des Kindes eine Gefahr bestehe, wenn es von dem Elternteil getrennt werde.
In dem Fall, dass sich ein Mitgliedstaat mit einer Situation konfrontiert sieht, die ihn angesichts einer ernsthaften Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens daran hindert, von der Befugnis Gebrauch zu machen, einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz für unzulässig zu erklären, muss die zuständige nationale Behörde nach Auffassung des Generalanwalts diesen Antrag in der Sache prüfen, um festzustellen, ob die Bedingungen erfüllt sind, die Drittstaatsangehörige oder Staatenlose erfüllen müssen, damit ihnen ein solcher Schutz zuerkannt werden kann.
Ein Antrag auf internationalen Schutz, der allein – unabhängig von der Behauptung einer Verfolgungsgefahr oder einer ernsthaften Bedrohung des Antragstellers – auf der Grundlage eines notwendigen Familienverbands im Aufnahmemitgliedstaat und in Bezug auf den Begünstigten eines solchen Schutzes beruhe, könne aber keinen Erfolg haben. Ferner sehe das Unionsrecht nicht vor, dass einem Familienangehörigen einer Person, die internationalen Schutz genieße, automatisch ein Flüchtlingsstatus in abgeleiteter Form zuzuerkennen sei.