Generalanwalt Pikamäe ist im Verfahren C-121/21 vor dem Europäischen Gerichtshof der Auffassung, dass Polen durch die Verlängerung der Genehmigung für den Abbau von Braunkohle im Tagebau Turów ohne Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung um sechs Jahre gegen das Unionsrecht verstoßen hat.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 23/2022 vom 03.02.2022 ergibt sich:
Der Braunkohletagebau Turów liegt im polnischen Hoheitsgebiet nahe der Grenzen zur Tschechischen Republik und zur Bundesrepublik Deutschland. Im Jahr 1994 erteilten die zuständigen polnischen Behörden der PGE Elektrownia Bełchatów S.A., nunmehr PGE Górnictwo i Energetyka Konwencjonalna S.A., (im Folgenden: Betreiber) eine Abbaubewilligung für diesen Tagebau bis zum 30. April 2020. Nach einem polnischen Gesetz von 20081 kann die Gültigkeit einer Braunkohleabbaubewilligung einmal um sechs Jahre ohne Umweltverträglichkeitsprüfung verlängert werden, wenn die Verlängerung mit einer rationellen Bewirtschaftung des Vorkommens ohne Erweiterung des Umfangs der Genehmigung begründet wird. Am 24. Oktober 2019 beantragte der Betreiber eine Verlängerung dieser Bewilligung um sechs Jahre gemäß Art. 72 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. k des Umweltinformationsgesetzes. Am 21. Januar 2020 erließ der Direktor für Umweltschutz der Region Wrocław die Entscheidung betreffend die Umweltverträglichkeitsprüfung für bestimmte Projekte (im Folgenden: UVP-Entscheidung), die er am 23. Januar 2020 für sofort vollziehbar erklärte. Am 24. Januar 2020 fügte der Betreiber die UVP-Entscheidung dem im Jahr 2019 gestellten Antrag auf Verlängerung der Abbaubewilligung bei. Mit Entscheidung vom 20. März 2020 erteilte der polnische Minister für Klima die Genehmigung zum Braunkohleabbau bis 2026.
Die Tschechische Republik ist der Ansicht, dass die Republik Polen mit der Erteilung dieser Genehmigung in mehrfacher Hinsicht gegen Unionsrecht verstoßen habe, und befasste daher am 30. September 2020 die Europäische Kommission2. Am 17. Dezember 2020 erließ die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie Polen mehrere Verstöße gegen Unionsrecht vorwarf. Insbesondere sah sie im Erlass einer Vorschrift, wonach eine Braunkohleabbaugenehmigung ohne Umweltverträglichkeitsprüfung um bis zu sechs Jahre verlängert werden kann, einen Verstoß dieses Mitgliedstaats gegen die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten3. Da sie der Auffassung ist, dass Polen gegen Unionsrecht4 verstoßen habe, hat die Tschechische Republik am 26. Februar 2021 eine Vertragsverletzungsklage5 beim Gerichtshof erhoben6.
In seinen Schlussanträgen vom 03.02.2022 weist Generalanwalt Priit Pikamäe zunächst darauf hin, dass der Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits grundsätzlich auf die zum Zeitpunkt der Befassung der Kommission durch die Tschechische Republik bestehende gesetzliche und administrative Lage zu begrenzen ist. Dies schließt nicht aus, dass bestimmte nach diesem Zeitpunkt eingetretene Tatsachen ebenfalls als erheblich angesehen werden können. Diese Berücksichtigung späterer Tatsachen ist jedoch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur ausnahmsweise möglich, nämlich dann, wenn es sich um Tatsachen derselben Art wie das gerügte Verhalten handelt oder wenn sie nicht zu einer wesentlichen Änderung des beanstandeten Aspekts führen.
Was die Verlängerung der Genehmigung für den Braunkohleabbau ohne Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung betrifft, prüft der Generalanwalt sodann, ob ein Mitgliedstaat im Wege der Gesetzgebung die zuständigen Behörden ermächtigen kann, vom Erlass einer Reihe von Verwaltungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Genehmigung von Bergbauprojekten abzusehen. In diesem Zusammenhang stellt er fest, dass Bergbaustätten einer dem Tagebau Turów ähnlichen Fläche ihrer Natur nach die Gefahr erheblicher Auswirkungen auf die Umwelt mit sich brächten und zwingend Gegenstand einer Umweltverträglichkeitsprüfung sein müssten. Zudem beschränke sich die UVP-Richtlinie nicht darauf, eine Umweltverträglichkeitsprüfung für die ursprüngliche Genehmigung für ein Projekt vorzuschreiben, sondern sie gelte auch für bestimmte dazugehörige Entscheidungen. Der Generalanwalt leitet daraus ab, dass die einmalige Verlängerung einer Bergbaubetriebsgenehmigung um sechs Jahre ein Projekt darstelle, das einer Prüfung in Bezug auf seine Auswirkungen auf die Umwelt unterzogen werden müsse. Soweit die polnischen Vorschriften eine allgemeine und endgültige Freistellung sämtlicher Bergbaustätten von der Pflicht bewirkten, sich einer „Prüfung in Bezug auf ihre Auswirkungen“ zu unterziehen, ohne dass die jedem Projekt eigenen Merkmale, die erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben könnten, gebührend berücksichtigt würden, seien sie als mit den Anforderungen der UVP-Richtlinie unvereinbar anzusehen. Des Weiteren ist der Generalanwalt der Ansicht, dass die polnischen Rechtsvorschriften gegen die verfahrensrechtlichen Anforderungen7 im Zusammenhang mit der Umweltverträglichkeitsprüfung verstießen. Schließlich stellt er fest, dass die im Juli 2021 erfolgten Gesetzesänderungen, denen zufolge in Zukunft die einmalige Verlängerung einer Braunkohleabbaubewilligung um sechs Jahre nach den polnischen Rechtsvorschriften nicht möglich ist, wenn nicht zuvor eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt worden ist, im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nicht berücksichtigt werden könnten, wenn der Streitgegenstand nicht in ungerechtfertigter Weise geändert werden solle.
Was das Fehlen einer Veröffentlichung der Genehmigung zum Braunkohleabbau bis 2026 sowie das Fehlen ihrer Mitteilung an die Tschechische Republik in verständlicher Form angeht, ist der Generalanwalt der Auffassung, dass angesichts des Zwecks der Veröffentlichungspflichten, wirksame Rechtsbehelfe gegen die betreffenden Entscheidungen zu ermöglichen, die Informationen, die der Öffentlichkeit und den Behörden der benachbarten Mitgliedstaaten, die von den Auswirkungen eines bestimmten Projekts auf die Umwelt betroffen seien, zugänglich gemacht würden, vollständig und verständlich sei müssten. Aus diesem Grund ist er der Ansicht, dass der der Öffentlichkeit und den genannten nationalen Behörden bekanntzugebende „Inhalt der Entscheidung“, mit der die Abbautätigkeiten im Tagebau Turów genehmigt würden, nicht nur aus der Verlängerungsentscheidung bestehen dürfe, sondern sämtliche Dokumente umfassen müsse, die das Wesen der Genehmigung ausmachten. Nur eine solche Maßnahme sei nämlich geeignet, die Öffentlichkeit und die Behörden der benachbarten Mitgliedstaaten in die Lage zu versetzen, die Tragweite dieser Verwaltungsentscheidung zu erfassen und gegebenenfalls angemessen und rechtzeitig darauf zu reagieren. Außerdem habe Polen gegen Unionsrecht verstoßen, indem es diese Genehmigung erst fünf Monate nach ihrem Erlass und zudem unvollständig an die Tschechische Republik übermittelt habe. Ein Zeitraum von fünf Monaten für eine einfache Übermittlung der fraglichen Genehmigung stelle nämlich eine beträchtliche Verspätung dar, wenn man auf der einen Seite die große Bedeutung der betroffenen Interessen berücksichtige und auf der anderen Seite den Umstand, dass es sich bei dieser Aufgabe um eine bloße Verwaltungstätigkeit handele, die nur eine einfache Versendung von Dokumenten erfordere. Darüber hinaus verstoße diese fehlende Veröffentlichung gegen die Verpflichtung8, Genehmigungen, die erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben, der Öffentlichkeit zugänglich machen, und zwar unmittelbar durch deren Veröffentlichung oder durch einen Hinweis darauf, wo Zugang zu ihnen beantragt werden kann.
Schließlich stellt der Generalanwalt fest, dass Polen dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit9 verstoßen habe, dass es nicht die vollständigen Informationen über das Verfahren zur Erteilung der Genehmigung zum Braunkohleabbau bis 2026 zur Verfügung gestellt habe. Denn nach diesem Grundsatz sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, sich bei der Verfolgung der Ziele der Union gegenseitig zu unterstützen. Dies umfasst insbesondere die Verpflichtung, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen zu treffen, die sich aus dem abgeleiteten Recht ergeben, aber auch alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten. Der Generalanwalt ist der Ansicht, dass eine verspätete und unvollständige Übermittlung der angeforderten Informationen durch Polen, verbunden mit einer Weigerung, die Unterstützungsersuchen der Tschechischen Republik zu beantworten, nicht den Anforderungen genüge, die sich aus dem Geist der Solidarität, der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Unterstützung der Mitgliedstaaten ergeben und die das Unionsrecht zur Erreichung des Ziels eines wirksamen Umweltschutzes aufstellt.
1 Ustawa o udostępnianiu informacji o środowisku i jego ochronie, udziale społeczeństwa w ochronie środowiska oraz o ocenach oddziaływania na środowisko (Gesetz über den Zugang zu Informationen über die Umwelt und deren Schutz, die Beteiligung der Öffentlichkeit am Umweltschutz und über die Umweltverträglichkeitsprüfung) vom 3. Oktober 2008 (Dz. U. Nr. 199, Position 1227).
2 Gemäß Art. 259 AEUV kann jeder Mitgliedstaat den Gerichtshof der Europäischen Union anrufen, wenn er der Auffassung ist, dass ein anderer Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat. Bevor ein Mitgliedstaat wegen einer angeblichen Verletzung der Verpflichtungen aus den Verträgen gegen einen anderen Staat Klage erhebt, muss er die Kommission damit befassen. Die Kommission erlässt eine mit Gründen versehene Stellungnahme; sie gibt den beteiligten Staaten zuvor Gelegenheit zu schriftlicher und mündlicher Äußerung in einem kontradiktorischen Verfahren.
3 Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012, L 26, S. 1) in der durch die Richtlinie 2014/52/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 (ABl. 2014, L 124, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: UVP-Richtlinie).
4 Gegen die UVP-Richtlinie, gegen die Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik (ABl. 2000, L 327, S. 1), gegen die Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates (ABl. 2003, L 41, S. 26) sowie gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV.
5 Es kommt selten vor, dass ein Mitgliedstaat eine Vertragsverletzungsklage gegen einen anderen Mitgliedstaat erhebt. Diese Klage ist die neunte in der Geschichte des Gerichtshofs (für die ersten sechs vgl. Pressemitteilung Nr. 131/12, für die siebte vgl. Pressemitteilung Nr. 75/19 und für die achte vgl. Pressemitteilung Nr. 9/20).
6 Bis zum Erlass des die Rechtssache C-121/21 abschließenden Urteils des Gerichtshofs (im Folgenden: Endurteil) hat die Tschechische Republik im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (Rechtssache C-121/21 R) beim Gerichtshof beantragt, Polen aufzugeben, die Tätigkeit des Abbaus von Braunkohle im Bergwerk Turów unverzüglich einzustellen. Mit Beschluss vom 21. Mai 2021 (im Folgenden: Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, vgl. auch Pressemitteilung Nr. 89/21) hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs diesem Antrag der Tschechischen Republik bis zum Erlass des Endurteils stattgegeben. Da die Tschechische Republik der Auffassung ist, dass Polen seinen Verpflichtungen aus diesem Beschluss nicht nachgekommen sei, hat sie am 7. Juni 2021 einen Antrag auf einstweilige Anordnungen gestellt, mit denen Polen aufgegeben werden soll, wegen des Verstoßes gegen seine Verpflichtungen ein tägliches Zwangsgeld in Höhe von 5 Millionen Euro an den Unionshaushalt zu zahlen. Polen hat seinerseits einen Antrag auf Aufhebung dieses Beschlusses gestellt. Mit Beschluss vom 20. September 2021 (vgl. auch Pressemitteilung Nr. 159/21) hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs diesen Antrag Polens zurückgewiesen und Polen aufgegeben, an die Kommission ein Zwangsgeld von 500 000 Euro pro Tag zu zahlen, und zwar ab dem Tag der Zustellung dieses Beschlusses an Polen und bis zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Mitgliedstaat den Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes befolgt.
7 Es handelt sich u. a. um die Pflicht des Projektträgers zur Erstellung und Vorlage eines UVP-Berichts sowie die Pflicht, die Behörden, die voraussichtlich von dem Projekt berührt sein könnten, zu konsultieren und den Zugang der Öffentlichkeit zu den Informationen über das Projekt einschließlich des Entscheidungsverfahrens sicherzustellen.
8 Nach Art. 7 der Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates (ABl. 2003, L 41, S. 26).
9 Der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist.