Die EU-Kommission hat Amazon von ihrer vorläufigen Auffassung in Kenntnis gesetzt, dass das Unternehmen auf Online-Einzelhandelsmärkten gegen die EU-Kartellvorschriften verstößt.
Aus EU-Aktuell vom 10.11.2020 ergibt sich:
Die EU-Kartellwächter werfen Amazon vor, nichtöffentliche Geschäftsdaten von unabhängigen Händlern, die über den Amazon-Marktplatz verkaufen, systematisch für das eigene, in unmittelbarem Wettbewerb mit diesen Händlern stehende Einzelhandelsgeschäft zu nutzen. Ferner hat die Kommission ein zweites förmliches Kartellverfahren eingeleitet, um zu prüfen, ob Amazon eigene Angebote und Angebote von Verkäufern, die die Logistik- und Versanddienste von Amazon nutzen, bevorzugt behandelt. „Der elektronische Handel boomt und Amazon ist die führende Plattform in diesem Bereich. Deshalb ist ein fairer Zugang zu Online-Kunden ohne Verzerrung des Wettbewerbs für alle Verbraucher wichtig“, sagte die für Wettbewerbspolitik zuständige Exekutiv-Vizepräsidentin Margrethe Vestager.
„Wir müssen verhindern, dass Plattformen mit Marktmacht, die auch selbst über die Plattform verkaufen, wie etwa Amazon, den Wettbewerb verzerren. Daten über die Tätigkeit unabhängiger Verkäufer sollten von Amazon nicht zum eigenen Vorteil genutzt werden, wenn das Unternehmen mit diesen Verkäufern konkurriert. Die Wettbewerbsbedingungen auf der Amazon-Plattform müssen fair sein. Die Regeln sollten nicht künstlich die eigenen Angebote von Amazon oder die Angebote von Verkäufern, die die Logistik- und Versanddienste von Amazon nutzen, begünstigen“, so Vestager weiter.
Mitteilung der Beschwerdepunkte zur Nutzung von Marktplatz-Verkäuferdaten durch Amazon
Amazon hat als Plattform eine doppelte Funktion: Zum einen stellt das Unternehmen einen Online-Marktplatz zur Verfügung, über den unabhängige Händler ihre Produkte direkt an Verbraucher verkaufen können, und zum anderen tritt das Unternehmen auf diesem Marktplatz selbst als konkurrierender Einzelhändler auf.
Amazon hat als Marktplatz-Dienstleister Zugang zu nichtöffentlichen Geschäftsdaten unabhängiger Verkäufer, wie z. B. der Zahl der bestellten und ausgelieferten Produkte, den von den Verkäufern über den Marktplatz erzielten Einnahmen, der Anzahl der Aufrufe von Angeboten der Verkäufer, den Versanddaten, der bisherigen Aktivität der Verkäufer und den geltend gemachten Verbraucherrechten für Produkte (z. B. in Anspruch genommene Garantien).
Bisherige Ergebnisse der Kommission zeigen, dass den Mitarbeitern des Einzelhandelsgeschäfts von Amazon sehr große Mengen nichtöffentlicher Verkäuferdaten zur Verfügung stehen, die direkt in die automatisierten Systeme des Geschäfts fließen, wo sie aggregiert und genutzt werden, um Endkundenangebote und strategische Geschäftsentscheidungen von Amazon auszutarieren – zum Nachteil der anderen Verkäufer auf dem Marktplatz. Amazon kann so beispielsweise seine Angebote auf diejenigen Produkte einer Kategorie konzentrieren, die sich am besten verkaufen, und seine Angebote auf der Grundlage nichtöffentlicher Daten konkurrierender Verkäufer ggf. anpassen.
Die Kommission vertritt in ihrer Mitteilung der Beschwerdepunkte vorläufig die Auffassung, dass Amazon durch Nutzung nichtöffentlicher Verkäuferdaten die normalen mit dem Wettbewerb im Einzelhandel verbundenen Geschäftsrisiken vermeiden und seine beherrschende Stellung im Bereich der Marktplatz-Dienste in Frankreich und Deutschland, den größten Märkten für Amazon in der EU, ausweiten kann. Bestätigt sich dieses Vorgehen, läge ein Verstoß gegen Art. 102 AEUV vor, nach dem der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung verboten ist.
Die Mitteilung der Beschwerdepunkte greift dem Ergebnis des jeweiligen Verfahrens nicht vor.
Untersuchung der Amazon-Geschäftspraxis zum Einkaufswagen-Feld und zu „Prime“
Ferner hat die Kommission eine zweite kartellrechtliche Untersuchung zur Geschäftspraxis von Amazon eingeleitet, da sie Bedenken hat, dass das Unternehmen die eigenen Einzelhandelsangebote und die Angebote von Marktplatz-Verkäufern, die die Logistik- und Zustellungsdienste von Amazon nutzen („Versand-durch-Amazon“), bevorzugt behandelt.
Die Kommission wird insbesondere prüfen, ob die Kriterien, nach denen Amazon das Einkaufswagen-Feld vergibt und es Verkäufern ermöglicht, Prime-Kunden zu beliefern („Prime durch Verkäufer“), zu einer Vorzugsbehandlung der Angebote von Amazon oder der Angebote von Verkäufern, die die Logistik- und Versanddienste von Amazon nutzen, führen.
Über das gut sichtbar auf der Amazon-Website angezeigte Einkaufswagen-Feld können Kunden Produkte eines bestimmten Einzelhändlers direkt in ihren Einkaufswagen legen. Für Verkäufer ist die Zuweisung dieses Felds (d. h. die Anzeige ihres Angebots in dem Feld) von entscheidender Bedeutung, da dort nur das Angebot des jeweiligen Verkäufers für ein gewähltes Produkt erscheint und der überwiegende Teil aller Verkäufe über dieses Feld generiert wird. Ferner bezieht sich die Untersuchung auf die Möglichkeit von Marktplatz-Verkäufern, Prime-Kunden wirksam zu erreichen. Da die Zahl der Prime-Nutzer ständig zunimmt und Prime-Kunden in der Regel mehr Produkte über Amazon bestellen als andere Kunden, ist es für die Verkäufer wichtig, sie mit ihren Angeboten zu erreichen.
Sollten sich die Bedenken der Kommission bestätigen, würde ein Verstoß gegen Art. 102 AEUV vorliegen, nach dem der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung verboten ist. Die Kommission wird ihre eingehende Untersuchung vorrangig behandeln. Das Verfahren wird ergebnisoffen geführt.
Hintergrund und Verfahren
Art. 102 AEUV verbietet die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung. Wie diese Bestimmungen umzusetzen sind, ist in der EU-Kartellverordnung (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates) festgelegt, die auch von den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten angewendet werden kann. Am 17.07.2019 leitete die Kommission eine eingehende Untersuchung der Nutzung von Daten der Marktplatz-Verkäufer durch Amazon ein.
Die Mitteilung der Beschwerdepunkte ist ein förmlicher Schritt bei Untersuchungen der Kommission im Falle mutmaßlicher Verstöße gegen die EU-Kartellvorschriften. In einer solchen Mitteilung setzt sie die Parteien schriftlich über die gegen sie vorliegenden Beschwerdepunkte in Kenntnis. Die Unternehmen können dann die Untersuchungsakte der Kommission einsehen, sich schriftlich dazu äußern und eine mündliche Anhörung beantragen, in der sie gegenüber Vertretern der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden zu der Sache Stellung nehmen. Weder eine Mitteilung der Beschwerdepunkte noch ein förmliches Kartellverfahren greifen dem Untersuchungsergebnis vor.
Weitere Informationen können auf der Website der Generaldirektion Wettbewerb über das öffentlich zugängliche Register unter der Nummer AT.40462 eingesehen werden.
Die Kommission hat Amazon und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten mitgeteilt, dass sie eine zweite eingehende Untersuchung der Geschäftspraxis von Amazon eingeleitet hat.
Räumlich erstreckt sich das Verfahren auf den Europäischen Wirtschaftsraum mit Ausnahme Italiens. Die italienische Wettbewerbsbehörde hat bereits im vergangenen Jahr begonnen, ähnliche Bedenken mit besonderem Schwerpunkt auf dem italienischen Markt zu prüfen. Die Kommission wird die enge Zusammenarbeit mit der italienischen Wettbewerbsbehörde während der gesamten Untersuchung fortsetzen.
Weitere Informationen können auf der Website der Generaldirektion Wettbewerb über das öffentlich zugängliche Register unter der Nummer AT.40703 eingesehen werden.
Es gibt keine verbindlichen Fristen für den Abschluss einer kartellrechtlichen Untersuchung. Die Dauer einer solchen Untersuchung hängt von verschiedenen Faktoren ab, u. a. von der Komplexität der Sache, dem Umfang, in dem die betreffenden Unternehmen mit der Kommission kooperieren, und der Ausübung der Verteidigungsrechte.