Der Bundesgerichtshof hat sich am 19.01.2021 zum Aktenzeichen VI ZR 433/19 erstmals zur Thematik des sogenannten „Thermofensters“ geäußert und klargestellt, dass die Entwicklung und der Einsatz der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) für sich genommen nicht ausreichen, um einen Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung zu begründen.
Aus der Pressemitteilung des BGH Nr. 16/2021 vom 26.01.2021 ergibt sich:
Der Kläger erwarb am 19.01.2012 von dem beklagten Fahrzeughersteller ein Neufahrzeug vom Typ Mercedes-Benz C 220 CDI zu einem Kaufpreis von 32.106,20 Euro. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 ausgestattet und unterliegt keinem Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA). Für den Fahrzeugtyp wurde eine Typgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.06.2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl. L 171 vom 29.06.2007, S. 1 ff.; nachfolgend: Verordnung 715/2007/EG) mit der Schadstoffklasse Euro 5 erteilt. Die Abgasreinigung erfolgt in dem vom Kläger erworbenen Fahrzeug über die Abgasrückführung. Dabei wird ein Teil der Abgase wieder der Verbrennung im Motor zugeführt, was zu einer Verringerung der Stickoxidemissionen führt. Die Abgasrückführung wird bei kühleren Temperaturen reduziert („Thermofenster“), wobei zwischen den Parteien streitig ist, bei welchen Außentemperaturen dies der Fall ist. Der Kläger behauptet, die Motorsteuerung reduziere bei einstelligen positiven Außentemperaturen die Abgasrückführung und schalte sie schließlich ganz ab. Dies führe zu einem erheblichen Anstieg der Stickoxidemissionen. Er sieht in der Steuerung der Abgasrückführung eine unzulässige Abschalteinrichtung und behauptet, die Beklagte habe diese Funktion dem KBA gezielt vorenthalten und verschleiert. Mit seiner Klage verlangt der Kläger von der Beklagten im Wesentlichen die Erstattung des gezahlten Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung, Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs.
Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts steht dem Kläger kein Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gegen die Beklagte zu. Das Inverkehrbringen des vom Kläger erworbenen Fahrzeugs sei unabhängig von der objektiven Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des in der Motorsteuerung installierten „Thermofensters“ weder als sittenwidrige Handlung einzustufen noch ergebe sich daraus der erforderliche Schädigungsvorsatz der Beklagten. Es könne ohne konkrete Anhaltspunkte nicht unterstellt werden, dass die Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein agiert hätten, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Die Gesetzeslage sei hinsichtlich der Zulässigkeit von „Thermofenstern“ nicht eindeutig.
Der BGH hat das angefochtene Urteil auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers gemäß § 544 Abs. 9 ZPO wegen Verletzung rechtlichen Gehörs aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Nach Auffassung des BGH ist das Berufungsgericht allerdings zu Recht davon ausgegangen, dass die Entwicklung und der Einsatz der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) für sich genommen nicht ausreichen, um einen Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung (§ 826 BGB) zu begründen. Das Verhalten der für den beklagten Kraftfahrzeughersteller handelnden Personen sei nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren, weil sie den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einem solchen Thermofenster ausgestattet und in den Verkehr gebracht haben. Dies gelte auch dann, wenn das Thermofenster als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung 715/2007/EG zu qualifizieren sein sollte und die Beklagte mit der Entwicklung und dem Einsatz dieser Steuerung eine Kostensenkung und die Erzielung von Gewinn erstrebte. Der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit sei vielmehr nur dann gegeben, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen.
Der Einsatz eines sog. Thermofensters sei nicht mit der Fallkonstellation zu vergleichen, die dem Senatsurteil vom 25.05.2020 (VI ZR 252/19 zum VW-Motor EA189) zugrunde liegt. Dort hatte der Automobilhersteller die grundlegende strategische Frage, mit welchen Maßnahmen er auf die Einführung der – im Verhältnis zu dem zuvor geltenden Recht strengeren – Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm reagieren würde, im eigenen Kosten- und Gewinninteresse dahingehend entschieden, von der Einhaltung dieser Grenzwerte im realen Fahrbetrieb vollständig abzusehen und dem KBA stattdessen zwecks Erlangung der Typgenehmigung mittels einer eigens zu diesem Zweck entwickelten Motorsteuerungssoftware wahrheitswidrig vorzuspiegeln, dass die von ihm hergestellten Dieselfahrzeuge die neu festgelegten Grenzwerte einhalten. Bei dem Einsatz eines Thermofensters wie im vorliegenden Fall fehle es dagegen an einem derartigen arglistigen Vorgehen des beklagten Automobilherstellers, das die Qualifikation seines Verhaltens als objektiv sittenwidrig rechtfertigen würde. Nach den getroffenen Feststellungen unterscheide die im streitgegenständlichen Fahrzeug eingesetzte temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung nicht danach, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befinde. Sie weise keine Funktion auf, die bei erkanntem Prüfstandsbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviere und den Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziere, sondern arbeite in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise.
Bei dieser Sachlage wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur gerechtfertigt, wenn zu dem – vom Berufungsgericht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unterstellten – Verstoß gegen die Verordnung 715/2007/EG weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setze jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen.
Unter den Umständen des Einzelfalles rechtsfehlerhaft habe das Berufungsgericht aber angenommen, der Kläger habe für ein derartiges Vorstellungsbild sprechende Anhaltspunkte nicht aufgezeigt. Unter Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör habe es dessen Vorbringen nicht berücksichtigt, wonach die Beklagte im Typgenehmigungsverfahren unzutreffende Angaben über die Arbeitsweise des Abgasrückführungssystems gemacht habe. Mit diesem Vorbringen werde sich das Berufungsgericht zu befassen haben. Dabei wird es zunächst der Beklagten Gelegenheit zur Erwiderung auf dieses Vorbringen geben müssen.