Der Europäische Gerichtshof hat am 01.07.2021 zum Aktenzeichen C-521/19 entschieden, dass bei der Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage eines von Mehrwertsteuerpflichtigen verschleierten Umsatzes davon auszugehen ist, dass die von der Steuerverwaltung rekonstruierten gezahlten und erhaltenen Beträge die Mehrwertsteuer bereits enthalten. Jede andere Auslegung würde gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer verstoßen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 117/2021 vom 01.07.2021 ergibt sich:
Die Lito-Gruppe ist eine mit dem Infrastruktur- und Orchestermanagement für Patronats- und Dorffeste in Galicien (Spanien) betraute Unternehmensgruppe. Ein Vermittler von Künstlern verhandelte im Rahmen einer mehrwertsteuerpflichtigen Tätigkeit im Namen der Lito-Gruppe mit den kommunalen Festkomitees über den Auftritt von Orchestern. Die Festkomitees zahlten in bar und erhielten keine Rechnung. Diese Zahlungen wurden der Steuerverwaltung weder für Zwecke der Körperschaftsteuer noch für Zwecke der Mehrwertsteuer erklärt. Der Vermittler erhielt 10 % der Einnahmen der Lito-Gruppe. Die Zahlungen an ihn wurden ebenfalls in bar und ohne Rechnung geleistet. Sie wurden zudem nicht erklärt. Da der Vermittler keine Rechnungen ausstellte, gab er auch keine Mehrwertsteuererklärung ab.
Die Steuerverwaltung ist der Ansicht, dass die Beträge, die der Vermittler als Entgelt für seine Tätigkeit erhalten habe (64 414,90 Euro im Jahr 2010, 67 565,40 Euro im Jahr 2011 und 60 692,50 Euro im Jahr 2012), keine Mehrwertsteuer enthielten. Die Steuerbemessungsgrundlage für die Einkommensteuer dieser Jahre sei daher unter Berücksichtigung der Gesamtheit dieser Beträge zu ermitteln. Die Steuer des Vermittlers für die Jahre 2010 bis 2012 wurde neu festgesetzt, und gegen ihn wurden Sanktionen verhängt. Der Vermittler rügt dies. Er trägt vor, die nachträgliche Anwendung der Mehrwertsteuer auf die von der Steuerverwaltung als Einkünfte eingestuften Beträge stehe im Widerspruch zur Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) und des Gerichtshofs, wonach die Mehrwertsteuer, wenn Umsätze bekannt würden, die ihr grundsätzlich unterlägen, für die jedoch keine Erklärungen abgegeben und keine Rechnungen ausgestellt worden seien, als in dem zwischen den Parteien dieser Umsätze vereinbarten Preis enthalten anzusehen sei. Der Vermittler ist der Auffassung, da es ihm nach spanischem Recht nicht möglich sei, die nicht abgewälzte Mehrwertsteuer einzufordern, weil sein Verhalten ein Steuervergehen darstelle, müsse davon ausgegangen werden, dass die Mehrwertsteuer im Preis der erbrachten Dienstleistungen enthalten sei.
Das mit der Rechtssache befasste Tribunal Superior de Justicia de Galicia (Oberstes Gericht von Galicien, Spanien) möchte vom Gerichtshof wissen, wie die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie 2006/112/EG (ABl. 2006, L 347, 1) über die Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage eines Umsatzes zwischen Mehrwertsteuerpflichtigen auszulegen sind, wenn die Steuerpflichtigen der Steuerverwaltung aufgrund eines Steuerbetrugs weder mitgeteilt haben, dass es den Umsatz gibt, noch eine Rechnung ausgestellt oder die bei diesem Umsatz erzielten Einkünfte in einer direkte Steuern betreffenden Erklärung angegeben haben. Das spanische Gericht wirft die Frage auf, ob in einem solchen Fall davon auszugehen ist, dass die gezahlten und erhaltenen Beträge die Mehrwertsteuer bereits enthalten.
In seinem Urteil vom 01.07.2021 entscheidet der Gerichtshof, dass unter den genannten Umständen davon auszugehen ist, dass die von der Steuerverwaltung im Rahmen der Überprüfung einer direkte Steuern betreffenden Erklärung durchgeführte Rekonstruktion der bei dem fraglichen Umsatz gezahlten und erhaltenen Beträge einen die Mehrwertsteuer bereits enthaltenden Preis darstellt, es sei denn, für die Steuerpflichtigen besteht nach nationalem Recht die Möglichkeit, die in Rede stehende Mehrwertsteuer trotz des Betrugs nachträglich abzuwälzen und in Abzug zu bringen.
Der Gerichtshof führt zunächst aus, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen zu den von der Richtlinie anerkannten und geförderten Zielen gehört. Allerdings zählt die Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage eines Umsatzes zwischen Steuerpflichtigen nicht zu den Instrumenten zur Ahndung von Steuerhinterziehungen. Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin, dass Steuerpflichtige, die die Grundregeln der Richtlinie, insbesondere im Bereich der Rechnungsstellung, nicht eingehalten haben, die Folgen ihres Verhaltens zu tragen haben, indem sie die Mehrwertsteuer auch dann nicht in Abzug bringen können, wenn auf die Umsätze, für die keine Rechnung ausgestellt wurde, nach einer Steuerprüfung rückwirkend Mehrwertsteuer erhoben wird. Der Mehrwertsteuerpflichtige kann das Recht auf Vorsteuerabzug nämlich grundsätzlich erst dann ausüben, wenn er im Besitz einer Rechnung ist. Im vorliegenden Fall kann der Vermittler aufgrund des von ihm begangenen Betrugs – unbeschadet der steuerlichen Sanktionen, die gegen ihn verhängt wurden oder verhängt werden könnten – die Mehrwertsteuer, die auf den gegenüber der Steuerverwaltung nicht erklärten und der Lito-Gruppe nicht in Rechnung gestellten Umsatz entfällt, offenbar nicht in Abzug bringen.
Der Umstand, dass Steuerpflichtige gegen die Pflicht zur Rechnungsstellung verstoßen haben, kann jedoch dem Grundprinzip der Richtlinie, das darin besteht, dass nur der Endverbraucher durch das Mehrwertsteuersystem belastet werden soll, nicht im Weg stehen.
Der Gerichtshof hebt hervor, dass die Wiederherstellung der Situation, die ohne Unregelmäßigkeit und erst recht ohne Betrug bestanden hätte, durch die Steuerverwaltung stets eine unvermeidbare Unsicherheitsmarge beinhaltet. Folglich ist die Steuerbemessungsgrundlage – d. h. die Gegenleistung als subjektiver Wert, den der Steuerpflichtige tatsächlich erhalten hat und der die Mehrwertsteuer nicht umfasst – im Fall einer nachträglichen Rekonstruktion durch die betreffende nationale Steuerverwaltung wegen des fehlenden Ausweises der Mehrwertsteuer in einer Rechnung oder des Fehlens einer Rechnung unter Berücksichtigung dieser unvermeidbaren Unsicherheitsmarge zu verstehen, unabhängig davon, ob eine betrügerische Absicht besteht.
Deshalb ist davon auszugehen, dass das Ergebnis eines Umsatzes, der gegenüber der Steuerverwaltung verschleiert wurde, obwohl für ihn eine Rechnung hätte ausgestellt werden müssen und er hätte erklärt werden müssen, die auf den Umsatz entfallende Mehrwertsteuer enthält, wenn dieses Ergebnis auf einer Rekonstruktion beruht, die im Rahmen einer Prüfung in Bezug auf direkte Steuern vorgenommen wurde. Anders verhielte es sich, wenn es nach dem anwendbaren nationalen Recht möglich wäre, die Mehrwertsteuer zu berichtigen.
Jede andere Auslegung verstieße gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und würde dazu führen, dass ein Teil der Mehrwertsteuerbelastung von einem Steuerpflichtigen zu tragen wäre, obwohl die Mehrwertsteuer nur vom Endverbraucher getragen werden soll. Die Beachtung dieses Grundsatzes hindert die Mitgliedstaaten aber nicht daran, Sanktionen zur Bekämpfung von Steuerbetrug zu erlassen. Ein Steuerbetrug wie der in Rede stehende ist im Rahmen solcher Sanktionen zu ahnden und nicht im Wege der Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage.