Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen wegen Versagung einer Geldentschädigung nach rechtswidriger körperlicher Durchsuchung

Das Bundesverfassungsgericht hat Beschluss vom 19. Mai 2023 zum Aktenzeichen 2 BvR 78/22 der Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen stattgegeben. Der Beschwerdeführer wandte sich gegen ein Urteil des Landgerichts Regensburg, mit dem ihm eine Geldentschädigung versagt wurde, die er nach einer mit vollständiger Entkleidung verbundenen körperlichen Durchsuchung begehrte. Zuvor hatte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts bereits die Rechtswidrigkeit der Durchsuchung festgestellt.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 53/2023 vom 16. Juni 2023 ergibt sich:

Das angegriffene Urteil des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG). Indem es einen Entschädigungsanspruch unter Verweis auf ein fehlendes Verschulden der handelnden Amtsträger verneint hat, ohne eine konventionsfreundliche Auslegung der § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in Verbindung mit Art. 34 GG oder die Anwendung weiterer staatshaftungsrechtlicher Institute zu prüfen, verkennt es den Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf die Anwendung des einfachen Rechts.

Das angegriffene Urteil wird aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt: 

Der Beschwerdeführer verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt in Bayern. Nach einem Familienbesuch im März 2019 wurde er einer körperlichen Durchsuchung unterzogen. Nachdem er sich vollständig entkleidet hatte, inspizierten die Bediensteten der Justizvollzugsanstalt zunächst die Achselhöhlen, den Mund und die Fußsohlen. Anschließend kam es zu einer Nachschau im Intimbereich des Beschwerdeführers.

Gegen die Durchsuchung stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung, den das Landgericht Regensburg und das Bayerische Oberste Landesgericht zurückwiesen. Der hiergegen erhobenen Verfassungsbeschwerde gab die 1. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 23. September 2020 – 2 BvR 1810/19 – statt, weil die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzten. Dementsprechend stellte das Landgericht Regensburg fest, dass die mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung des Beschwerdeführers rechtswidrig gewesen sei und diesen in seinen Rechten verletzt habe.

Der Beschwerdeführer nahm daraufhin den Freistaat Bayern auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung in Höhe von 500 Euro in Anspruch. Mit angegriffenem Urteil vom 14. Dezember 2021 wies das Landgericht Regensburg die Klage ab. Bei der Frage der Rechtswidrigkeit sei man zwar an die gerichtliche Feststellung der zuständigen Strafvollstreckungskammer gebunden. Dies gelte jedoch nicht für die Frage, ob eine schuldhafte Amtspflichtverletzung vorliege. Der Beschwerdeführer habe ein Verschulden der handelnden Amtsträger nicht nachgewiesen. Nicht jeder objektive Rechtsirrtum begründe einen Verschuldensvorwurf. Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer vergleichbaren Konstellation eine Geldentschädigung nach Art. 41 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zugebilligt habe, stehe dem nicht entgegen. Bei der Entscheidung über den Entschädigungsanspruch hätten die deutschen Gerichte allein das nationale Recht, hier § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG, zugrunde zu legen. Erst wenn das innerstaatliche Recht lediglich eine unvollkommene Entschädigung für die Folgen einer Konventionsverletzung gewähre, komme eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK in Betracht, für deren Ausspruch allein der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zuständig sei.

Wesentliche Erwägungen der Kammer: 

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Das angegriffene Urteil des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG.

Durchsuchungen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Die Versagung eines Entschädigungsanspruchs berührt den Schutzbereich dieses Grundrechts.

Das hier einschlägige Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ist unter Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auszulegen. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes. Auf der Ebene des einfachen Rechts trifft die Fachgerichte die Verpflichtung, die Gewährleistungen der Konvention zu berücksichtigen und in den betroffenen Teilbereich der nationalen Rechtsordnung einzupassen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit mehrfach über Entschädigungsansprüche nach körperlichen Durchsuchungen von Strafgefangenen entschieden. In dem auch vom Beschwerdeführer angeführten Urteil in der Rechtssache Roth v. Germany vom 22. Oktober 2020 – Nr. 6780/18 und 30776/18 – stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 EMRK sowie Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK fest und sprach dem dortigen Beschwerdeführer nach Art. 41 EMRK wegen mehrerer rechtswidriger körperlicher Durchsuchungen eine Geldentschädigung in Höhe von insgesamt 12.000 Euro zu.

Gemessen hieran verletzt das angegriffene Urteil den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG.

Die vom Beschwerdeführer erduldete körperliche Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht dar (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 2020 – 2 BvR 1810/19 -, Rn. 21). Das Landgericht hat die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Roth v. Germany zwar zur Kenntnis genommen und ist in dem angegriffenen Urteil darauf eingegangen. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Urteil und den Vorgaben, die sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben, bleibt jedoch hinter den verfassungsrechtlichen Anforderungen zurück.

Das Landgericht ist im angegriffenen Urteil in vertretbarer Weise, wenn auch ohne nähere Begründung, davon ausgegangen, dass die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Roth v. Germany eine vergleichbare Konstellation betraf. Deshalb hätte es die Frage klären müssen, inwieweit dessen Vorgaben auf den hier zu entscheidenden Fall übertragen werden können.

Das Gericht hat lediglich festgestellt, dass die Zubilligung einer Entschädigung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für die nationalen Gerichte nicht maßgeblich sei, da diese bei der Entscheidung über eine Entschädigung allein das nationale Recht zugrunde zu legen hätten. Diese Sichtweise verkennt, dass die Fachgerichte die Verpflichtung trifft, die Gewährleistungen der Konvention zu beachten und in die nationale Rechtsordnung einzupassen. Ihre Aufgabe besteht gerade darin, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch eine konventionsfreundliche Auslegung des nationalen Rechts auf eine Weise Rechnung zu tragen, die Konventionsverletzungen und entsprechende Entschädigungsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland vermeidet.

Infolgedessen lässt die Entscheidung auch die konkreten Vorgaben außer Acht, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in dem Urteil in der Rechtssache Roth v. Germany aufgestellt hat. Bei Verletzungen von Art. 3 EMRK ist danach in der Regel eine Entschädigung in Geld zu gewähren. Die bloße Feststellung der Verletzung genügt nur in Ausnahmefällen zur Genugtuung, insbesondere bei weniger gravierenden Verstößen oder bloßen Verfahrensfehlern. Ferner muss im nationalen Recht eine praktisch und rechtlich wirksame Möglichkeit zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzung bestehen. Insofern hat der Gerichtshof betont, dass die Entschädigung potenziell leerlaufe, wenn sie daran gekoppelt werde, dass der Anspruchsteller ein Verschulden seitens der handelnden Stellen beweisen kann („prove fault“). Bereits zuvor hatte er in mehreren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass eine verschuldensabhängige Staatshaftung („conditional on the establishment of fault“) in Konstellationen, in denen regelmäßig ein Entschädigungsanspruch bestehe, den Anforderungen der Konvention nicht gerecht werde.

Zwar findet die konventionsfreundliche Auslegung ihre Grenze dort, wo die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht verstößt. Das Landgericht hat jedoch nicht geprüft, ob und inwieweit den entsprechenden Vorgaben unter Berücksichtigung der anerkannten Auslegungsgrundsätze, zu denen auch die teleologische Reduktion zählt, Rechnung getragen werden könnte. Es hat ferner unterlassen, die Anwendung weiterer staatshaftungsrechtlicher Institute jenseits des in § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG verankerten, verschuldensabhängigen Amtshaftungsanspruchs in Erwägung zu ziehen. So wird im Schrifttum etwa vermehrt die Anwendung des in richterlicher Rechtsfortbildung aus §§ 74, 75 des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten abgeleiteten und mittlerweile gewohnheitsrechtlich anerkannten allgemeinen Aufopferungsanspruchs auf Persönlichkeitsrechtsverletzungen befürwortet. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage bislang offengelassen (vgl. BGHZ 50, 14 <18>).