Das Bundesverfassungsgericht hat am 12.10.2021 zum Aktenzeichen 1 BvR 781/21 ein Ablehnungsgesuch gegen den Präsidenten Harbarth und die Richterin Baer in einem Verfahren zu Vorschriften des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes („Bundesnotbremse“) zurückgewiesen.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 90/2021 vom 18.10.2021 ergibt sich:
Das Ablehnungsgesuch stützt sich im Wesentlichen auf das bei einem Treffen der Bundesregierung mit dem Bundesverfassungsgericht am 30. Juni 2021 erörterte Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“. Ein Teil der von den Beschwerdeführenden vorgebrachten Gründe ist schon gänzlich ungeeignet, die Besorgnis der Befangenheit der abgelehnten Richter zu begründen. Im Übrigen ist das Gesuch jedenfalls unbegründet.
Sachverhalt:
Mit Schriftsatz vom 22. September 2021 stellte der Bevollmächtigte ein gegen den Präsidenten Harbarth und die Richterin Baer gerichtetes Ablehnungsgesuch. Gegenstand des Hauptsacheverfahrens sind die mit Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite eingeführten Ausgangsbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG. Die Besorgnis der Befangenheit von Präsident Harbarth ergebe sich unter anderem aus dessen Einflussnahme auf die Auswahl der bei einem Treffen der Bundesregierung mit dem Bundesverfassungsgericht am 30. Juni 2021 erörterten Themen sowie aus der in der Pressemitteilung Nr. 78 des Bundesverfassungsgerichts vom 20. August 2021 erfolgten Ankündigung, in den Verfahren 1 BvR 781/21 u. a. nach vorläufiger Einschätzung ohne mündliche Verhandlung im Beschlussweg entscheiden zu wollen. Bei Richterin Baer bestehe ebenfalls die Besorgnis der Befangenheit, weil sie bei dem genannten Treffen mit der Bundesregierung einen Vortrag zu dem Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“ gehalten habe. Die Beschwerdeführenden müssten davon ausgehen, dass die abgelehnte Richterin sich zu im vorliegenden Verfahren bedeutsamen Sach- und Rechtsfragen geäußert habe.
Die Beschwerdeführenden haben ihr Ablehnungsgesuch mehrfach ergänzt. Präsident Harbarth habe sich in einem Interview gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur „Corona-Krise“ in einer die Besorgnis seiner Befangenheit zusätzlich begründenden Weise geäußert. Im Übrigen würden die Zweifel an der fehlenden Unvoreingenommenheit der abgelehnten Richter durch interne Vermerke des Bundeskanzleramts an die Bundeskanzlerin bestätigt, wonach Präsident Harbarth nach Rücksprache mit Vizepräsidentin König als Thema vorgeschlagen habe „Entscheidung unter Unsicherheiten“: Welche Beurteilungsspielräume verbleiben den Gewalten bei tatsächlichen Unklarheiten? Wieviel Überprüfbarkeit verbleibt dem BVerfG? Wie kann Sicherheit gewonnen werden? Welche Evaluierungspflichten sind dabei zu berücksichtigen? Diese Themenbeschreibung habe einen offensichtlichen Bezug zu den beim Bundesverfassungsgericht anhängigen „Corona-Verfahren“.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Das Ablehnungsgesuch bleibt insgesamt ohne Erfolg.
- Ein Teil der von den Beschwerdeführenden für die Besorgnis der Befangenheit von Präsident Harbarth angeführten Gründe sind dazu gänzlich ungeeignet. Treffen zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen dem Bundesverfassungsgericht und der Bundesregierung als solche, damit auch das hier fragliche Treffen vom 30. Juni 2021, sind ein zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit gänzlich ungeeigneter Grund. Gleiches gilt für die in der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 78 vom 20. August 2021 enthaltene bloße Mitteilung einer vorläufigen Einschätzung des Senats zur Frage der Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Auch der Inhalt des Interviews von Präsident Harbarth in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit gänzlich ungeeignet. Nach dem eindeutigen objektiven Erklärungswert der fraglichen Äußerung in dem Interview hat der abgelehnte Richter eine allgemein gehaltene Einschätzung der durch das Coronavirus SARSCoV-2 verursachten Lage in Deutschland im Vergleich zu nicht im Einzelnen benannten anderen Staaten geäußert. Bewertungen der seitens der verschiedenen zuständigen Gesetz- und Verordnungsgeber ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus enthält die von den Beschwerdeführenden vorgetragene Passage des Interviews nicht.
- Der Antrag ist jedenfalls unbegründet.
Ausweislich der dienstlichen Stellungnahme Präsident Harbarths wurde das Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“ für einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Verfassungsorganen unter seiner Mitwirkung ausgewählt. Er habe es insbesondere deshalb für geeignet gehalten, weil es abstrakte und zeitlose Fragestellungen betreffe und es sich auch ohne konkreten Bezug zu anhängigen Verfahren erörtern lasse. Die Beteiligung von Präsident Harbarth an der Auswahl des Themas „Entscheidung unter Unsicherheiten“ vermag den Anschein seiner fehlenden Unvoreingenommenheit nicht zu begründen. Die Festlegung eines Themas für einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundesregierung als solche ohne inhaltliche Positionierung, wie damit rechtlich umzugehen ist, begründet grundsätzlich keinen „bösen Schein“ einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit. Das gilt auch für das hier gewählte Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“.
Die mit dem Thema verbundenen Rechtsfragen zu den Kontrollmaßstäben des Bundesverfassungsgerichts unter den Bedingungen tatsächlicher Unsicherheiten sind vielfältig und stellen beziehungsweise stellten sich in zahlreichen Verfahren, die das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden hat und noch zu entscheiden haben wird; der Senat weist insoweit unter anderem aus seiner jüngsten Rechtsprechung auf rechtliche Ausführungen zum Klimawandel und zur Zinsentwicklung hin. Am übergreifenden Charakter der Fragestellung ändert auch die im Vermerk der Bundesregierung festgehaltene Themenbeschreibung nichts, denn es handelt sich insoweit lediglich um ebenso abstrakt formulierte Unterthemen, die gerade die vielfältigen mit dem Thema verbundenen Rechtsfragen aufgreifen.
Dass das Thema gerade zu dem Zweck vorgeschlagen worden sei, Mitgliedern der Bundesregierung die Möglichkeit zu geben, sich zu tatsächlichen und rechtlichen Aspekten konkret anhängiger Verfahren zu äußern, stellt eine bloße Behauptung dar, für die es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt und die bei vernünftiger Betrachtung nicht naheliegt. Im Übrigen hat sich die Ministerin ausweislich des von den Beschwerdeführenden selbst vorgelegten Redemanuskripts in ihrem achtminütigen Impulsvortrag gerade nicht zu konkret anhängigen Verfahren geäußert. Ungeachtet dessen wäre der sachliche Gehalt ihres konkreten Vortrags von vornherein nicht geeignet, eine Grundlage für einen Rückschluss zu bieten, Präsident Harbarth habe das Thema mit ausgewählt, um der Bundesregierung Äußerungen zu einem anhängigen Verfahren zu ermöglichen.
III. Das gegen die Richterin Baer gerichtete Ablehnungsgesuch ist gleichfalls teilweise bereits gänzlich ungeeignet, die Besorgnis der Befangenheit der Richterin zu begründen und im Übrigen jedenfalls unbegründet. Wie sich aus der dienstlichen Stellungnahme der abgelehnten Richterin ergibt, waren Gegenstand ihres Vortrags allein abstrakte Überlegungen dazu, dass Gerichte mit der Dynamik und Komplexität von Wissen anders umgehen müssen als Legislative und Exekutive mit ihrer je eigenen Handlungsrationalität. Dies kann eine Besorgnis der Befangenheit der Richterin nicht begründen. Dass abstrakte rechtliche Überlegungen auch in einem konkreten Verfahren zur Anwendung gelangen können, ist ihnen immanent. Nicht anders als bei in wissenschaftlichen Beiträgen oder sonst geäußerten Rechtsauffassungen könnten allgemein gehaltene Rechtsausführungen allenfalls dann zur Besorgnis der Befangenheit führen, wenn weitere Umstände in der Person der abgelehnten Richterin hinzuträten, aus denen auf eine fehlende Unvoreingenommenheit und insbesondere eine Vorfestlegung zu entscheidungsrelevanten Rechtsfragen geschlossen werden könnte. Dies ist nicht der Fall.