Entzug des elterlichen Sorgerechts verfassungsgemäß?

14. Juli 2020 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10. Juni 2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 572/20 entschieden, dass der im einstweiligen Anordnungsverfahren erfolgte Entzug weiter Teile des elterlichen Sorgerechts für ihren im November 2007 geborenen Sohn nicht verfassungswidrig ist.

Die Beschwerdeführerin ist Mutter von vier Kindern, von denen zwei noch minderjährig sind. Für den ursprünglich in ihrem Haushalt wohnenden Sohn hatte sie das alleinige Sorgerecht.

Das Familiengericht leitete im Juli 2018 von Amts wegen ein Verfahren zum Entzug der elterlichen Sorge für den Sohn der Beschwerdeführerin ein. Auslöser dafür war der Bericht eines Sozialarbeiters, der die Umgänge der Beschwerdeführerin mit ihrer Tochter begleitete. Dessen Wahrnehmungen enthielten Anhaltspunkte für eine eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin, die zu einer Gefährdung des seelischen Wohls des Sohnes führen könnte. Gestützt auf die Einschätzung der für den Sohn bestellten Verfahrensbeiständin und des zuständigen Jugendamts sah das Familiengericht zunächst von Maßnahmen nach § 1666 BGB ab, weil der Sohn aktuell noch in der Lage sei, mit dem Verhalten der Mutter umzugehen.

Nachdem das Jugendamt Kenntnis von mehreren Vorfällen unter anderem mit erheblichem gewalttätigen Verhalten des Sohnes der Beschwerdeführerin gegenüber anderen Kindern in der Schule und im Hort erlangt hatte, leitete das Familiengericht auf Anregung des Jugendamts erneut ein Verfahren zur vorläufigen Entziehung der elterlichen Sorge für diesen ein. Im Rahmen des einstweiligen Anordnungsverfahrens holte es eine Stellungnahme der Verfahrensbeiständin ein. Im September 2019 hörte es den Sohn sowie im Oktober 2019 die Beschwerdeführerin persönlich an. In diesem Termin nahmen die Verfahrensbeiständin und das Jugendamt erneut Stellung. Das Familiengericht hörte zudem die ehemalige Klassenlehrerin des Sohnes, den Leiter des Hortes und eine Gruppenerzieherin aus dem Hort an, den der Sohn bis zum Sommer 2019 besucht hatte.

Mit angegriffenem Beschluss vom 1. Oktober 2019 entzog das Familiengericht der Beschwerdeführerin vorläufig weite Teile der elterlichen Sorge für ihren Sohn, unter anderem das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht zur Gesundheitssorge sowie das Recht zur Regelung der schulischen Angelegenheiten und übertrug diese auf den Ergänzungspfleger. Diesem wurde das Kind herausgegeben, der es am 4. Oktober 2019 in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterbrachte, in der sich der Sohn der Beschwerdeführerin bis heute befindet. Das Familiengericht führte zur Begründung aus, auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts bestehe eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr für das Kindeswohl, dass sich ohne Maßnahmen des Familiengerichts bei einer weiteren aktuellen Entwicklung eine erhebliche Schädigung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lasse. Bei den näher festgestellten erheblichen Gewalttätigkeiten des Sohnes handele es sich um „Hilferufe eines sich in großer seelischer Not befindenden Kindes“. Die Beschwerdeführerin sei nicht in der Lage, die Gefahr für das Kindeswohl abzuwenden. Ihre Erziehungsfähigkeit sei aufgrund einer Persönlichkeitsstörung mit unreifen und impulsiven Wesenszügen sowie einer Störung der Impulskontrolle eingeschränkt. Die diesbezüglichen Annahmen stützte das Familiengericht auch auf zwei 2014 in früheren (wohl) familiengerichtlichen Verfahren eingeholte Sachverständigengutachten sowie auf die Schilderungen der im hier zugrundeliegenden Ausgangsverfahren gehörten Personen. Weniger eingriffsintensive Maßnahme als der weitgehende Entzug des Sorgerechts kämen wegen der fehlenden Mitwirkungsbereitschaft und Akzeptanz der Beschwerdeführerin nicht in Betracht. Im Hauptsacheverfahren hat das Amtsgericht ein Sachverständigengutachten zur Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin beauftragt. Das Gutachten liegt noch nicht vor.

Das Oberlandesgericht lehnte am 13. Dezember 2019 eine Aussetzung der Vollziehung des familiengerichtlichen Beschlusses auf der Grundlage einer Folgenabwägung ab. Mit angegriffenem Beschluss vom 7. Februar 2020 wies es zudem die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen die vorläufige Sorgerechtsentscheidung des Familiengerichts zurück. Zur Begründung nahm das Oberlandesgericht auf seinen Beschluss vom 13. Dezember 2019 Bezug. Die dort getroffene vorläufige Abwägung sei durch die weitere Entwicklung bestätigt worden. Ein (erneuter) Aufenthaltswechsel des Kindes sei vor einer Entscheidung im Hauptsachverfahren zu vermeiden, um ihm die Möglichkeit rechtzeitiger therapeutischer Behandlung der bei ihm „diagnostizierten Verhaltensauffälligkeiten“ zu erhalten.

Eine gegen die Beschwerdeentscheidung gerichtete Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin verwarf das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 25. März 2020 als unzulässig.

Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geltend und sieht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht gewahrt. Sie beanstandet unter anderem unzureichende Feststellungen zur Kindeswohlgefährdung und bringt vor, die Fachgerichte hätten ihre Einwendungen gegen die Verwertbarkeit früherer, ihre Erziehungsfähigkeit betreffender Gutachten nicht gewürdigt. Zudem hätten sich die Gerichte nicht mit ihren Einwänden gegen die Stellungnahme der Verfahrensbeiständin und des Jugendamts auseinandergesetzt.

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz dieses Rechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. BVerfGE 84, 168 <180>; 107, 150 <173>).

Eine ‒ hier erfolgte ‒ räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar, der nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen oder aufrechterhalten werden darf (vgl. nur BVerfGE 60, 79, <88 ff.>; stRspr). Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt diesen Eingriff lediglich unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>; 72, 122, <140>; 136, 382 <391 Rn. 28>; stRspr). Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 -, Rn. 44; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 – 1 BvR 383/18 -, Rn. 16 jeweils m.w.N.).

Für die Fachgerichte ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten. Die Fachgerichte werden dem regelmäßig nicht gerecht, wenn sie ihren Blick nur auf die Verhaltensweisen der Eltern lenken, ohne die sich daraus ergebenden schwerwiegenden Konsequenzen für die Eltern darzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juni 2014 – 1 BvR 725/14 -, Rn. 24 und 26 f.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2014 – 1 BvR 1178/14 -, Rn. 37 m.w.N.).

Soweit dies auf der Grundlage der eingereichten Unterlagen beurteilt werden kann, bestehen Zweifel, ob Amts- und Oberlandesgericht diese grundsätzlich auch im fachrechtlichen Eilverfahren zu beachtenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellungen einer Kindeswohlgefährdung hinreichend in den Blick genommen haben.

Das Familiengericht ist von einer drohenden Kindeswohlgefährdung ausgegangen, die ohne den vorläufigen Sorgerechtsentzug und die Fremdunterbringung des Sohnes der Beschwerdeführerin mit ziemlicher Sicherheit zu dessen erheblicher Schädigung führen werde. Dem Gesamtzusammenhang seines Beschlusses lässt sich entnehmen, dass das Familiengericht wohl eine Gefährdung des seelischen Wohls des Kindes annimmt. Diese leitet es aus dem für die Jahre 2018 und 2019 festgestellten, mehrfachen, erheblich fremdaggressiven Verhalten des Sohnes zum Nachteil von Mitschülern sowie der objektivtatbestandlich § 17 TierschutzG unterfallenden Tötung eines Vogels (wohl einer Taube) mittels mehrerer Stockschläge durch den Sohn der Beschwerdeführerin ab. Derartige Verhaltensweisen eines Kindes, die mit Erreichen der Altersschwelle strafrechtlicher Verantwortlichkeit (vgl. § 19 StGB, § 3 JGG) zu jugendstrafrechtlichen Konsequenzen führen können, mögen Ausdruck einer erheblichen Gefährdung des Kindeswohls sein und dementsprechend grundsätzlich Maßnahmen nach § 1666 BGB begründen können. Allerdings hat sich das Familiengericht vorliegend weitgehend auf die Beschreibung der tatsächlichen Geschehnisse beschränkt und sie ohne weitergehende Begründung als Ausdruck eines in großer seelischer Not befindlichen Kindes gedeutet. Nähere Erwägungen zu der Art und der Schwere der Kindeswohlgefährdung enthält der familiengerichtliche Beschluss nicht. Auch wenn im fachgerichtlichen einstweiligen Anordnungsverfahren die praktisch verfügbaren Aufklärungsmöglichkeiten angesichts der spezifischen Eilbedürftigkeit dieser Verfahren regelmäßig hinter denen des Hauptsacheverfahrens zurückbleiben und insbesondere die Einholung eines Sachverständigengutachtens bereits im einstweiligen Anordnungsverfahren aus zeitlichen Gründen von Verfassungs wegen nicht stets geboten ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 – 1 BvR 383/18 -, Rn. 18 m.w.N.), kann im Rahmen der unter den Bedingungen des Eilverfahrens möglichen Sachverhaltsaufklärung auf konkrete Feststellungen zu Art und Ausmaß der Kindeswohlgefährdung nicht gänzlich verzichtet werden. Entsprechendes gilt für die Feststellung und Beurteilung dazu, dass auch unter Berücksichtigung der negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern eine hinreichende Aussicht auf Beseitigung der drohenden Kindeswohlgefährdung besteht und sich seine Situation in der Gesamtbetrachtung verbessert (zum Maßstab vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Mai 2014 – 1 BvR 3190/13 -, Rn. 31; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 – 1 BvR 383/18 -, Rn. 16 m.w.N.).

Ob die Erwägungen des Familiengerichts zu der fehlenden Fähigkeit der Beschwerdeführerin, der drohenden Kindeswohlgefährdung zu begegnen, verfassungsrechtlicher Prüfung standhielten, kann wegen der unterbliebenen Vorlage der ihre Erziehungsfähigkeit betreffenden Gutachten, auf die sich der angegriffene Beschluss stützt, nicht beurteilt werden.

Auch die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts vom 7. Februar 2020 gibt nicht ohne weiteres zu erkennen, von welcher Art der Kindeswohlgefährdung es ausgeht. Den jeweils knappen Ausführungen des Oberlandesgerichts sowohl in der genannten Entscheidung als auch in dem vorausgegangenen, nicht angegriffenen Beschluss vom 13. Dezember 2019 lässt sich der Sache nach wohl entnehmen, dass dieses die Schädigung oder Gefährdung des Kindeswohls in dessen Verhaltensauffälligkeiten sieht und diese bereits vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren für therapiebedürftig hält. Soweit das Gericht „diagnostizierte(n) Verhaltensauffälligkeiten“ als gegeben erachtet, bleibt die Grundlage für die Annahme einer Diagnose undeutlich. Mehr als die beobachtenden Wahrnehmungen des Verhaltens des Sohnes der Beschwerdeführerin durch Lehr- und andere pädagogische Kräfte dürfte bislang nicht vorliegen, so dass von einer für die Diagnose charakteristischen zusammenfassenden Beurteilung erhobener Befunde nicht ohne weiteres gesprochen werden kann. Zwar ist durchaus plausibel, dass Anlass besteht, die Ursachen für das erheblich gewalttätige Verhalten des Kindes abzuklären und an die Ergebnisse der Abklärung anknüpfend eine therapeutische Behandlung einzuleiten. Das enthebt die Fachgerichte selbst im einstweiligen Anordnungsverfahren aber nicht der aus der Intensität des Eingriffs in das Elternrecht resultierenden Anforderung, Art und Schwere der Kindeswohlgefährdung im Rahmen des im einstweiligen Anordnungsverfahren Möglichen konkret festzustellen und in den Entscheidungsgründen darzulegen.

Die Fachgerichte werden im bereits eingeleiteten Hauptsacheverfahren zur elterlichen Sorge die verfassungsrechtlichen Erfordernisse ausreichend konkreter Feststellungen zu Art und Schwere der Kindeswohlgefährdung in den Blick nehmen müssen, zumal durch das bereits beauftragte Sachverständigengutachten und die Erkenntnisse der wohl eingeleiteten fachwissenschaftlichen Abklärung der Verhaltensauffälligkeiten des Sohnes der Beschwerdeführerin eine breitere Erkenntnisgrundlage zur Verfügung stehen wird.