Der Europäische Gerichtshof hat am 27.01.2022 zu den Aktenzeichen C 234/20 und C-238/20 die Unionsrechtsbestimmungen für im Rahmen von Natura 2000 gewährte Ausgleichszahlungen ausgelegt.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 17/22 vom 27.01.2022 ergibt sich:
Der Schutz der Umwelt kann eine Beschränkung der Ausübung des Eigentumsrechts rechtfertigen, die nicht zwangsläufig einen Entschädigungsanspruch entstehen lässt.
Natura 2000 ist ein Gemeinschaftsnetz von Naturschutzgebieten, das nach der Habitatrichtlinie1 geschaffen wurde. Dieses Netz umfasst auch nach der Vogelschutzrichtlinie2 ausgewiesene Gebiete und soll in Europa den rarsten Arten langfristig ein Überleben sichern und die wertvollsten und am meisten bedrohten Lebensräume erhalten.
Rechtssache C-234/20
Im Jahr 2002 kaufte Sātiņi-S in Lettland 7,7 ha große, in einem Naturschutzgebiet und einem Natura-2000-Schutzgebiet von europäischer Bedeutung gelegene Torfgebiete.
Am 2. Februar 2017 beantragte Sātiņi-S beim Dienst zur Unterstützung des ländlichen Raums eine Ausgleichszahlung für die Jahre 2015 und 2016 wegen des Verbots der Anpflanzung von Moosbeeren in diesen Torfgebieten. Mit Bescheid vom 28. Februar 2017 wies diese Dienststelle den Antrag mit der Begründung zurück, dass das maßgebliche nationale Recht keine derartige Ausgleichszahlung vorsehe.
Sātiņi-S erhob beim Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Verwaltungsgericht, Lettland) Klage, die von diesem Gericht mit Urteil vom 26. März 2018 abgewiesen wurde. Sātiņi-S legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht, dem Augstākā tiesa (Senāts) (Oberstes Gericht, Lettland), ein.
Dieses Gericht hat dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Verordnung Nr. 1305/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Förderung der ländlichen Entwicklung durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER)3 sowie zu Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gestellt.
Nach Art. 30 dieser Verordnung wird jährlich eine Förderung je Hektar landwirtschaftlicher Fläche oder Waldfläche zum Ausgleich zusätzlicher Kosten und Einkommensverluste gewährt, die den Begünstigten aufgrund von Nachteilen in dem betreffenden Gebiet im Zusammenhang mit der Umsetzung der Habitatrichtlinie, der Vogelschutzrichtlinie und der Wasserrahmenrichtlinie entstehen. Dieser Artikel legt zudem fest, dass als Natura-2000-Gebiete nach der Habitat- und der Vogelschutzrichtlinie ausgewiesene land- und forstwirtschaftliche Gebiete für Zahlungen in Betracht kommen.
In seinem Urteil vom heutigen Tag stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass „Torfgebiete“ oder „Moorgebiete“ in Natura-2000-Gebieten, die nicht von den Begriffsbestimmungen „landwirtschaftliche Fläche“ oder „Wald“ im Sinne der Verordnung Nr. 1305/2013 erfasst werden, nicht für Zahlungen nach Art. 30 dieser Verordnung in Frage kommen können.
Sodann prüft der Gerichtshof, ob diese Verordnung einem Mitgliedstaat erlaubt, Torfgebiete von den Zahlungen im Rahmen von Natura 2000 auszuschließen oder die Gewährung der Förderung für solche Gebiete auf Fälle zu beschränken, in denen ihre Ausweisung als „Natura-2000-Gebiete“ zur Folge hat, dass die Ausübung einer bestimmten Art der wirtschaftlichen Tätigkeit in diesen Gebieten, insbesondere die forstwirtschaftliche Tätigkeit, erschwert wird.
Insoweit stellt der Gerichtshof klar, dass ein Mitgliedstaat nach Art. 2 Abs. 2 dieser Verordnung berechtigt ist, eine Bestimmung des Begriffs „Wald“ festzulegen, die bewirkt, dass Torfgebiete oder Moorgebiete vom Anspruch auf Zahlungen ausgeschlossen sind, auch wenn es sich um Gebiete handeln sollte, die der Definition in Art. 2 Abs. 1 Buchst. r der Verordnung Nr. 1305/2013 entsprechen. Im Übrigen erkennt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten zum einen bei der Wahl, welche der durch dieses Recht vorgesehenen Maßnahmen sie durchführen wollen, und zum anderen bei der Festlegung der Einschränkungen/Nachteile, auf deren Grundlage Zahlungen bewilligt werden, grundsätzlich einen Ermessensspielraum zu.
Nach Ansicht des Gerichtshofs ist Art. 30 Abs. 6 Buchst. a der Verordnung Nr. 1305/2013 somit dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat erlaubt, zum einen die als Natura-2000-Gebiete ausgewiesenen landwirtschaftlichen Gebiete im Sinne dieser Bestimmung, und zwar einschließlich der Torfgebiete, die zu diesen Gebieten gehören können, und zum anderen Torfgebiete in den Natura-2000-Gebieten, die grundsätzlich unter den Begriff des „Waldes“ im Sinne dieser Verordnung und somit unter den Begriff der als Natura-2000-Gebiet ausgewiesenen forstwirtschaftlichen Gebiete im Sinne dieser Verordnung fallen können, von Zahlungen im Rahmen von Natura-2000-Gebieten auszuschließen. Außerdem darf ein Mitgliedstaat solche Zahlungen für als Natura-2000-Gebiete ausgewiesene forstwirtschaftliche Gebiete, die gegebenenfalls Torfgebiete umfassen, auf jene Fälle beschränken, in denen durch die Ausweisung dieser Gebiete als „Natura-2000-Gebiete“ eine bestimmte Art der wirtschaftlichen Tätigkeit, insbesondere der forstwirtschaftlichen Tätigkeit, erschwert wird.
Schließlich ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 17 der Charta, dass er ausdrücklich nur im Fall eines Entzugs des Eigentumsrechts wie einer Enteignung, was hier offensichtlich nicht der Fall ist, einen Anspruch auf Entschädigung eröffnet.
Im vorliegenden Fall stellt das Verbot der Anpflanzung von Moosbeeren auf einem zum Natura-2000-Netz gehörenden Vermögensgegenstand keinen Entzug des Eigentumsrechts an diesem Vermögensgegenstand dar, sondern eine Beschränkung seiner Nutzung, die gesetzlich geregelt werden kann, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist, wie Art. 17 Abs. 1 Satz 3 der Charta vorsieht.
Nach Ansicht des Gerichtshofs ist aber nicht ersichtlich, dass eine Maßnahme, die sich darauf beschränkt, die Anpflanzung von Moosbeeren in Torfgebieten zum Schutz der Natur und der Umwelt zu verbieten, bei fehlender Ausgleichszahlung zugunsten der betroffenen Eigentümer einen unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen würde, der den Wesensgehalt ihres Eigentumsrechts antastet.
Insoweit können die Mitgliedstaaten, soweit sie dabei unter Beachtung des Unionsrechts handeln, gegebenenfalls zwar davon ausgehen, dass es angebracht ist, die Eigentümer der Parzellen, die von den nach der Vogelschutz- und der Habitatrichtlinie erlassenen Erhaltungsmaßnahmen betroffen sind, ganz oder teilweise zu entschädigen, doch lässt sich aus dieser Feststellung nicht ableiten, dass im Unionsrecht eine Verpflichtung zur Leistung einer solchen Ausgleichszahlung besteht.
Der Gerichtshof kommt zum Ergebnis. dass Art. 30 der Verordnung Nr. 1305/2013 in Verbindung mit Art. 17 der Charta dahin auszulegen ist, dass dem Eigentümer eines zum Natura-2000-Netz gehörenden Torfgebiets keine Zahlung im Rahmen von Natura 2000 gewährt werden muss, nur weil eine in einem solchen Torfgebiet ausübbare wirtschaftliche Tätigkeit einer Beschränkung unterworfen wurde, insbesondere dem Verbot der Anpflanzung von Moosbeeren, und obwohl der Eigentümer im Zeitpunkt des Erwerbs des betreffenden Grundstücks von einer solchen Beschränkung Kenntnis hatte.
Rechtssache C-238/20
Im Jahr 2002 kaufte Sātiņi-S zwei Grundstücke mit einer Gesamtfläche von 687 ha, davon 600,70 ha Teiche, in einem Naturschutzgebiet, das später, im Jahr 2005, in das Natura-2000-Netz in Lettland aufgenommen wurde.
Im Jahr 2017 reichte Sātiņi-S bei der Umweltschutzbehörde einen Antrag ein, mit dem sie eine Entschädigung für Schäden beantragte, die von geschützten Vogelarten und anderen geschützten Tierarten an der Aquakultur verursacht worden waren. Die Behörde lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass Sātiņi-S bereits ein Gesamtbetrag entsprechend den in der Verordnung (EU) Nr. 717/2014 über De-minimis-Beihilfen im Fischerei- und Aquakultursektor4 vorgesehenen De-minimis-Vorschriften in Höhe von 30 000 Euro bezogen auf einen Zeitraum von drei Steuerjahren gewährt worden sei.
Sātiņi-S erhob gegen diese Entscheidung Klage, mit der sie geltend machte, dass die Entschädigung für die durch geschützte Tierarten an der Aquakultur verursachten Schäden in Anbetracht ihres Ausgleichscharakters keine staatliche Beihilfe darstelle. Nachdem ihre Klage in erster und zweiter Instanz abgewiesen worden war, legte Sātiņi-S Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht, dem Augstākā tiesa (Senāts) (Oberstes Gericht, Lettland), ein.
In seinem Urteil vom heutigen Tag hat der Gerichtshof zunächst aus Gründen, die im Wesentlichen denen im Rahmen der Rechtssache C-234/20 entsprechen, entschieden, dass Art. 17 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem nicht entgegensteht, dass die Entschädigung, die ein Mitgliedstaat für Verluste gewährt, die einem Wirtschaftsteilnehmer durch die nach der Vogelschutzrichtlinie in einem Gebiet des Natura-2000-Netzes geltenden Schutzmaßnahmen entstanden sind, erheblich niedriger ist als die Schäden, die diesem Wirtschaftsteilnehmer tatsächlich entstanden sind.
Sodann weist der Gerichtshof auf die Frage, ob eine unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel gewährte Entschädigung angesichts ihres vermeintlichen Ausgleichscharakters ihrem Empfänger einen Vorteil im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV verschafft, darauf hin, dass die Kosten im Zusammenhang mit der Einhaltung der rechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Umwelt, insbesondere der wildlebenden Tiere, und im Zusammenhang mit der Deckung der Schäden, die wildlebende Tiere einem Unternehmen des Aquakultursektors zufügen können, zu den normalen Betriebskosten eines solchen Unternehmens gehören. Daher stellt die Gewährung einer Entschädigung für Schäden, die dem betroffenen Unternehmen durch geschützte Tiere entstanden sind, einen wirtschaftlichen Vorteil dar, den es unter normalen Marktbedingungen grundsätzlich nicht beanspruchen kann.
Laut Gerichtshof ist Art. 107 Abs. 1 AEUV somit dahin auszulegen, dass eine Entschädigung, die ein Mitgliedstaat für Verluste gewährt, die einem Wirtschaftsteilnehmer durch die nach der Vogelschutzrichtlinie in einem Gebiet des Natura-2000-Netzes geltenden Schutzmaßnahmen entstanden sind, einen Vorteil verschafft, der eine „staatliche Beihilfe“ im Sinne dieser Bestimmung darstellen kann, sofern die übrigen Voraussetzungen für eine solche Einstufung erfüllt sind.
Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 717/2014 dahin auszulegen ist, dass für den Fall, dass eine Entschädigung wie die in der zweiten Frage beschriebene die Voraussetzungen von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllt, die in dieser Bestimmung vorgesehene Obergrenze für De-minimis-Beihilfen von 30 000 Euro auf diese Entschädigung anwendbar ist.
Der Gerichtshof stellt fest, dass soweit die Verordnung Nr. 717/2014 anwendbar ist, der betreffende Mitgliedstaat, wenn er wie im vorliegenden Fall beschließt, die fragliche Beihilfe mit einer Obergrenze von 30 000 Euro zu deckeln, diese als „De-minimis-Beihilfe“ einstufen und folglich davon absehen darf, Letztere bei der Kommission zu notifizieren.
1 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7)
2 Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 2010, L 20, S. 7).
3 Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Förderung der ländlichen Entwicklung durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 (ABl. 2013, L 347, S. 487, und Berichtigung ABl. 2016, L 130, S. 1).
4 Verordnung (EU) Nr. 717/2014 der Kommission vom 27. Juni 2014 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 [AEUV] auf De-minimis-Beihilfen im Fischerei- und Aquakultursektor (ABl. 2014, L 190, S. 45).