Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 17. Juni 2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 1380/20 entschieden, dass eine einstweilige Unterlassungsverfügung, die ohne gerichtliche Anhörung der Beschwerdeführerin verfassungswidrig ist.
Am 10. Mai 2020 erschien in der „W.“ unter dem Titel „D.“ ein umfangreicher Bericht über einen „J.“, der an der Veröffentlichung des Videos maßgeblich beteiligt war, das zu dem Rücktritt des österreichischen Politikers Strache führte. Seit der Veröffentlichung wird gegen den im Artikel als J. teilanonymisierten Betroffenen in Österreich strafrechtlich ermittelt, worüber der Artikel umfassend unter Erwähnung diverser Zeugenaussagen berichtet. Der Artikel nennt verschiedene Vorwürfe, unter anderem Drogengeschäfte in größerem Umfang, einen Erpressungsversuch gegenüber Strache und eine vergangene Verurteilung wegen Drogenbesitzes. Zudem berichtet der Artikel über die alternative Darstellung der Vorgänge seitens des Betroffenen, wonach es sich bei den Ermittlungen um eine von den österreichischen Ermittlungsbehörden wegen politischer Verstrickungen mit Strache betriebenen Rufmordkampagne als Revanche für die Veröffentlichung des Videos handele.
Am 11. Mai 2020 mahnte der Betroffene die Beschwerdeführerin mit einem fünfzehnseitigen anwaltlichen Schreiben ab. Am Abend desselben Tages wies die Beschwerdeführerin das Unterlassungsbegehren zurück, wobei sie ihre Anhaltspunkte für die im Artikel geäußerten Vorwürfe darlegte und sich auf beigefügte Anlagen berief, unter anderem eine Europäische Ermittlungsanfrage und ein internes Recherchepapier mit einer Zusammenstellung diverser Zeugenaussagen.
Am Morgen des 12. Mai 2020 stellte der Betroffene Eilrechtschutzantrag beim Landgericht B. Die sechsundzwanzigseitige Antragsschrift war gegenüber der Abmahnung ausgebaut, reagierte auf die Argumente der Abmahnungserwiderung, ergänzte zwei eidesstattliche Versicherungen des Betroffenen, wonach er die geäußerten Verdächtigungen und deren behauptete Tatsachenumstände leugne, und rügte erstmals eine verspätete und teilweise unzureichende Konfrontation vor Veröffentlichung des Artikels.
Nach Abruf des Schutzschriftregisters gegen Mittag erließ das Landgericht B. noch am selben Tag die beantragte Unterlassungsverfügung ohne Begründung.
Nach Zustellung des Beschlusses am 14. Mai 2020 lehnte die Beschwerdeführerin die entscheidenden Richter am 19. Mai 2020 wegen Besorgnis der Befangenheit ab, legte am 20. Mai 2020 Widerspruch ein und stellte Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung. Den Befangenheitsantrag und den Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung begründete sie unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit einer offenkundigen Verletzung der prozessualen Waffengleichheit. Über beide Anträge ist noch nicht entschieden. Die mündliche Verhandlung ist noch nicht terminiert.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde und dem damit verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung rügt die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf den Beschluss der Kammer vom 3. Juni 2020 – 1 BvR 1246/20 – eine offenkundige und bewusste Verletzung ihrer prozessualen Waffengleichheit und begehrt eine Aussetzung der angegriffenen einstweiligen Verfügung.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
Die Beschwerdeführerin beruft sich darauf, dass sie durch die vollstreckbare Unterlassungsverfügung schwerwiegend in ihrer Berichterstattungsfreiheit eingeschränkt sei. Insbesondere ist es ihr durch die Verfügung versagt, den am 10. Mai 2020 in der Printversion erschienenen Artikel unverändert und vollständig über ihre digitalen Verbreitungswege, insbesondere im Online-Archiv, für die Öffentlichkeit bereitzuhalten.
Die vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG vorzunehmende Folgenabwägung (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 88, 185 <186>; 91, 252 <257 f.>; stRspr) führt zu dem Ergebnis, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen. Denn die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der gerügten Verletzung der prozessualen Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren offensichtlich zulässig und begründet (vgl. zu den Anforderungen näher BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 – 1 BvR 1783/17 -; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 – 1 BvR 1246/20 -).
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig (vgl. näher BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 – 1 BvR 1783/17 -, Rn. 10; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 – 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12). Die Beschwerdeführerin macht eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass der einstweiligen Verfügung geltend. Sie wendet sich dabei gegen ein ihrem Vorbringen nach bewusstes Übergehen ihrer prozessualen Rechte. Insbesondere mit dem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung kann eine Missachtung von Verfahrensrechten als solche nicht geltend gemacht werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 – 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12), weil er von den Erfolgsaussichten in der Sache abhängt. Auch sonst gibt es keinen Rechtsbehelf, mit dem eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit eigens als solche vor den Fachgerichten geltend gemacht werden könnte. Die Verfassungsbeschwerde kann daher ausnahmsweise unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung erhoben werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 – 1 BvR 1783/17 -, Rn. 10). Da die Rechtsbeeinträchtigung durch die Verfügung in Gestalt eines weiterhin vollstreckbaren Unterlassungstitels fortdauert, muss der Beschwerdeführer hierzu nach derzeitigem Stand kein besonders gewichtiges Feststellungsinteresse geltend machen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 – 1 BvR 1246/20 -, Rn. 13).
Die einstweilige Verfügung des Landgerichts B. verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Die hier maßgeblichen Rechtsfragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. den Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 – 1 BvR 1783/17 -, Rn. 14 ff.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 – 1 BvR 1246/20 -, Rn. 15 ff.). Danach gebietet der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit auch im Verfahren der einstweiligen Verfügung und selbst dann, wenn eine Verfügung wegen besonderer Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung ergehen darf, eine Einbeziehung der Gegenseite im Verfahren. Eine solche Einbeziehung durch das Gericht selbst ist nur entbehrlich, wenn die vorprozessuale Abmahnung und der bei Gericht eingereichte Antrag identisch sind und die Erwiderung der Gegenseite dem bei Gericht eingereichten Antrag beigefügt ist. Ist erkennbar eine solche Identität nicht gegeben, etwa weil der bei Gericht eingereichte Antrag auf die Erwiderung der Gegenseite inhaltlich eingeht und repliziert, muss das Gericht den Antrag zu Gehör der Gegenseite bringen (vgl. näher den Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 – 1 BvR 1783/17 -, Rn. 14 ff.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 – 1 BvR 1246/20 -, Rn. 18 f.).
Nach diesen Maßstäben verletzt der Beschluss des Landgerichts B. die Beschwerdeführerin offenkundig in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Durch den Erlass der einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung der Beschwerdeführerin durch das Gericht war vorliegend die Gleichwertigkeit ihrer prozessualen Stellung gegenüber dem Verfahrensgegner nicht mehr gewährleistet. Zwar hatte der Antragsteller die Beschwerdeführerin außerprozessual abgemahnt und diese darauf erwidert. Der gerichtliche Antragsschriftsatz ging jedoch ausdrücklich auf Einwände ein, die der Justiziar der Beschwerdeführerin in seinem Erwiderungsschreiben geäußert hatte. Bereits daraus ergab sich, dass das Gericht im Sinne gleichwertiger Äußerungs- und Verteidigungsmöglichkeiten der Beschwerdeführerin – gegebenenfalls auch fernmündlich oder per E-Mail – Gelegenheit hätte geben müssen, die Replik der Gegenseite zumindest zur Kenntnis zu nehmen, um ihrerseits zu erwidern. Hinzu kommt, dass die Antragsbegründung – auch unabhängig von den naturgemäß unterschiedlichen Anforderungen an ein anwaltliches Schreiben im Vergleich zu einem Verfahrensschriftsatz – umfassender und differenzierter war als das Abmahnschreiben und mehrere neue Gesichtspunkte enthielt. Insbesondere wird im gerichtlichen Antragsschriftsatz erstmals ausdrücklich die Tatsachengrundlage der im Artikel geschilderten Vorwürfe vom Betroffenen selbst bestritten, während das Abmahnschreiben noch in erster Linie auf deren Nichterweislichkeit anhand der Aktenlage abstellt. Die gebotene Kongruenz des der Entscheidung zugrundeliegenden Antrags zur vorprozessualen Abmahnung war damit ersichtlich nicht gegeben.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin eine Schutzschrift beim elektronischen Register hätte hinterlegen können. Denn es ist der Gegenseite nicht zuzumuten, auf diese Weise vorsorglich auf einen Vortrag zu erwidern, den sie noch nicht kennen kann.
Eine Einbeziehung der Beschwerdeführerin durch das Gericht vor Erlass der Verfügung wäre somit offensichtlich geboten gewesen. Eine solche Frist zur Stellungnahme hätte auch kurz bemessen sein können. Unzulässig ist es jedoch, wegen solcher Verzögerungen gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und sie stattdessen bis zum Zeitpunkt der auf den Widerspruch hin anberaumten mündlichen Verhandlung mit einem einseitig erstrittenen gerichtlichen Unterlassungstitel zu belasten. Dies gilt umso mehr, wenn dieser mit keiner Begründung versehen ist und damit in keiner Weise erkennen lässt, wieweit der Vortrag der Gegenseite überhaupt Berücksichtigung gefunden hat und unter welchen Gesichtspunkten er hintangestellt wurde.
Die Außervollzugsetzung der verfahrenswidrig zustande gekommenen Entscheidung gibt dem Landgericht B. Gelegenheit, im Rahmen seiner Entscheidung über den Widerspruch oder sonst im Rahmen einer etwaigen anderweitig zu treffenden neuerlichen Entscheidung in der Sache beide Seiten einzubeziehen und deren Vortrag zu berücksichtigen. Der Betroffene wird durch die einstweilige Aussetzung der einstweiligen Verfügung nicht rechtsschutzlos gestellt, weil auch eine äußerst zeitnahe Anberaumung der mündlichen Verhandlung möglich wäre. Eine vom Landgericht B. zu treffende neuerliche Sachentscheidung ist durch den vorliegend festgestellten Verstoß gegen die prozessuale Waffengleichheit inhaltlich in keiner Weise präjudiziert, sondern hängt von der Berechtigung des geltend gemachten Unterlassungsbegehrens ab.