Das Oberlandesgericht Koblenz hat mit Beschluss vom 30.03.2021 zum Aktenzeichen 5 Ws 16/21 entschieden, dass ein Verteidiger in bereits beschlagnahmte Asservate besteht, aber in noch nicht ausgewertete Unterlagen kein Einsichtsrecht besteht
Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist nicht statthaft (§ 304 Abs. 1 HS 2 StPO), soweit sie sich gegen die Art und Weise der Gewährung einer Einsicht in bereits beschlagnahmter Asservate richtet.
Gem. § 32f Abs. 3 StPO sind Entscheidungen über die Form der Gewährung von Akteneinsicht nach den Absätzen 1 und 2 der Vorschrift nicht anfechtbar. Der Ausschluss gilt auch für Entscheidungen über die Ausgestaltung des Rechts auf Besichtigung von Beweismitteln gem. § 147 Abs. 1 StPO.
Die Unanfechtbarkeit umfasst auch die Entscheidung über die Einsicht in lediglich als Kopie übermittelte Dokumente, wie sich aus dem Verweis des § 32f Abs. 3 auf die entsprechenden, in § 32f Abs. 1 u. 2 StPO genannten Übermittlungsformen ergibt.
Schließlich gilt der Ausschluss nicht nur für die Entscheidung über die Form der Gewährung von Akteneinsicht im engeren Sinne, sondern auch über die Art und Weise der Ermöglichung des Besichtigungsrechts. Denn nach Wortlaut und Wortsinn bezog sich der Anfechtungsausschluss nach § 147 Abs. 4 Satz 2 StPO a. F. sowohl darauf, ob die in § 147 Abs. 1 Satz 1 StPO a. F. genannten Gegenstände dem Verteidiger in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden, als auch auf die in der Regel damit zugleich getroffene Bewertung herausgegebener Sachen als Beweisstücke oder sonstige Aktenbestandteile. Die Regelung des § 32f Abs. 1 und 2 StPO begründet zudem kein eigenes, sondern setzt ein in anderen Vorschriften ausgestaltetes Akteneinsichtsrecht voraus, wobei im Falle des § 147 Abs. 1 StPO die Besichtigung von Beweismitteln im gleichen Regelungszusammenhang steht.
Eine Anfechtungsmöglichkeit der Staatsanwaltschaft besteht jedoch, soweit sich die entsprechenden Daten noch in ihrer Verfügungsgewalt befinden beziehungsweise noch gar nicht entschieden wurde, welche Daten letztlich als Beweismittel in das Verfahren eingeführt werden sollen. Denn die Durchsicht der Papiere bzw. elektronischen Speichermedien des von der Durchsuchung Betroffenen ist gem. § 110 Abs. 1 StPO Aufgabe der Staatsanwaltschaft und auf deren Anordnung ihrer Ermittlungspersonen, nicht jedoch der Verteidigung. Zu Beweisstücken im Sinne des § 147 Abs. 1 StPO werden die im Rahmen der Durchsuchung vorläufig sichergestellten Datenträger erst, wenn die Durchsicht gem. § 110 Abs. 1 StPO erfolgt und eine Beschlagnahmeanordnung ergangen ist. Erst dann entsteht das Besichtigungsrecht der Verteidigung.
Erst ab diesem Zeitpunkt greift auch der Anfechtungsausschluss gem. § 32f Abs. 3 StPO. Werden noch der Durchsicht unterliegenden Dokumente bzw. Datenträger der Verteidigung oder sonstigen Dritten durch das Gericht zugänglich gemacht, kann die Staatsanwaltschaft hiergegen Beschwerde einlegen.
Die Beschlagnahme (und die damit geschaffene Verfügungsbefugnis des Gerichts) setzt nämlich voraus, dass die zu beschlagnahmenden Gegenstände mit einer gewissen Genauigkeit bezeichnet werden können, sodass von diesen Gegenständen auch gesagt werden kann, dass sie als Beweismittel für die gerichtliche Untersuchung zu einem bestimmten einschlägigen Thema von Bedeutung sein können. Hat das Gericht über die Beweisbedeutung entschieden oder sind einzelne Daten seitens der Staatsanwaltschaft zum Aktenbestand gemacht worden, weil sie diese für verfahrensrelevant erachtet hat, ist eine Entscheidung über die Art und Weise, wie diese nun verfahrensgegenständlichen Beweisstücke den Beteiligten zugänglich gemacht werden sollen, einer Anfechtungsmöglichkeit gem. § 32f Abs. 3 StPO entzogen. Dies ist auch sachgerecht, da nunmehr (ähnlich wie bei zuvor geprüften TKÜ-Audiodateien) eine gewisse (wenn auch angesichts der regelmäßig anfallenden Datenmengen nicht lückenlose) Vorprüfung auf eine mögliche Verfahrensrelevanz und Rechte Dritter stattgefunden hat.
Hiermit korrespondiert allerdings die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, die Auswertung im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zügig vorzunehmen, um abhängig von der Menge des vorläufig sichergestellten Materials und der Schwierigkeit seiner Auswertung in angemessener Zeit zu dem Ergebnis zu gelangen, was als potenziell beweiserheblich dem Gericht zur Beschlagnahme angetragen und was an den Beschuldigten oder Drittbetroffenen herausgegeben werden soll. Verhindert werden soll hierdurch insbesondere, dass während laufender Hauptverhandlung stetig neue, bis dahin jedenfalls den übrigen Beteiligten unbekannt gebliebene Beweismittel nachgeliefert werden und gegebenenfalls – wie vorliegend geschehen – die Hauptverhandlung ausgesetzt werden muss.
Dabei verkennt der Senat nicht, dass die vorliegend sichergestellte Datenmenge – wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdebegründung selbst einräumt – in ihrer Gesamtheit nicht auswertbar ist. Dies kann jedoch nicht dazu führen, dass eine zeitlich letztlich nicht begrenzbare Durchsicht – vorliegend in Form von in Zeitabständen durchgeführten Suchen mittels Suchbegriffen – erfolgt und aufgrund dieser neben der eigentlichen Hauptverhandlung fortdauernden Ermittlungen das Verfahren ausgesetzt werden muss.
Die Kammer hat insoweit ausgeführt:
„[Es war] aus Sicht der Kammer nicht ausreichend, den Verteidigern nur das Fotografieren der eingesehenen Dokumente zu ermöglichen. Vielmehr muss Ihnen auch ermöglicht werden, Kopien der Beweismittel, also der elektronischen Dateien, in ihrer Gesamtheit auf einen externen Datenträger, z.B. eine Festplatte, zu fertigen. Dies vor folgendem Hintergrund: Angesichts der Masse der gesicherten Dateien ist es offensichtlich bereits den Ermittlungsbehörden nicht möglich, diese in Ihrer Gesamtheit auszuwerten. So dauert nach Aktenlage die Auswertung dieser IT-Asservate auch über drei Jahre nach den Durchsuchungen noch an, es liegen zwar einzelne Auswertevermerke indes soweit ersichtlich kein Abschlussbericht vor. Wesentlich ist somit – auch aus Sicht der Ermittlungsbehörden – das Arbeiten mit Suchbegriffen. So führt auch die Staatsanwaltschaft wie oben ausgeführt aus, dass es der Verteidigung natürlich unbenommen ist, ‚die dem Besichtigungsrecht unterliegenden sichergestellten Daten selbst mittels eigener Suchbegriffe nach weiteren für relevant erachteten Dokumenten zu durchforsten.‘ Insoweit ist es jedoch aus Sicht der Kammer den Verteidigern zu ermöglichen, ein solches Arbeiten mit Suchbegriffen durchgehend – auch während laufender Hauptverhandlung und angepasst an den Stand der Beweisaufnahme – vorzunehmen. Dies ist indes nur gewährleistet, wenn sie Zugriff auf die Dateien in [i]hrer Gesamtheit haben und nicht lediglich auf einzelne, anlässlich der Besichtigung in den Räumen der Staatsanwaltschaft abfotografierte Dokumente.“
Hierzu bemerkt der Senat, dass es nach den oben dargelegten Grundsätzen gerade nicht Aufgabe der Verteidigung ist, vorläufig sichergestellte und hinsichtlich ihrer Beweisbedeutung noch nicht eingeordnete Datenträger „mittels eigener Suchbegriffe nach weiteren für relevant erachteten Dokumenten zu durchforsten“. Da die Durchsicht gem. § 110 Abs. 1 StPO noch Teil der Durchsuchung ist, an der der Verteidiger nicht teilnehmen darf, geht auch eine Berufung auf das Recht zur Besichtigung von amtlich verwahrten Beweisstücken gem. § 147 Abs. 1 StPO insoweit ins Leere. Da die Staatsanwaltschaft gem. § 160 Abs. 2 StPO nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung der Beweise Sorge zu tragen, deren Verlust zu besorgen ist, liegt hierin aber keine unzulässige Beschränkung der Verteidigung. Die Ressorts der Polizei- und Justizverwaltung sind insoweit gehalten, die erforderlichen personellen und technischen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die eine Bewältigung entsprechender Datenmengen gegebenenfalls auch mittels entsprechender Software und unter Hinzuziehung externen Sachverstands ermöglichen.
Ein Recht der Verteidigung auf Beteiligung an der Durchsicht von Papieren und elektronischen Speichermedien gem. § 110 StPO ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 25. Juli 2019, wonach die Strafverfolgungsbehörden zur Ermöglichung eines fairen Verfahrens im Sinne von Art. 6 Abs. 1 u. 3 EMRK gehalten sind, der Verteidigung jedenfalls bei stichhaltig begründetem Antrag alle in ihren Händen befindlichen sachlichen Beweise zulasten und zugunsten des Betroffenen offenzulegen.
Zwar führt der Gerichtshof insoweit aus, dies schließe alles ein, was sich in der Hand der Behörden befinde und möglicherweise relevant sei, auch wenn es überhaupt nicht in Erwägung gezogen oder als nicht relevant angesehen wurde.
Zum einen besagt die Entscheidung des Gerichtshofs jedoch nicht, zu welchem Zeitpunkt eine Einsicht in elektronische Dateien gewährt werden muss. In dem zu Grunde liegenden Fall bestand die Einsichtsmöglichkeit nach Anklageerhebung, die Möglichkeit des Zugriffs auf die auf eine vom Verteidiger gestellte Festplatte kopierten Dateien etwa drei Monate vor Urteilsverkündung, was vom Gerichtshof als ausreichend erachtet wurde.
Zum anderen gilt der Anspruch auf Offenlegung auch nach Ansicht des Gerichtshof nicht ausnahmslos. So sei es angesichts gegenläufiger, gegen die Rechte des Angeklagten abzuwägender Gründe, insbesondere der Grundrechte Dritter oder eines erhebliches öffentliches Interesses, zulässig, Einschränkungen vorzunehmen, soweit diese unbedingt notwendig seien und angemessen im Verfahren durch die Gerichte ausgeglichen würden.
Der Wahrung der Rechte Dritter ist im deutschen Strafprozess bereits im Vorfeld im Wege der Durchsicht nach § 110 StPO Rechnung zu tragen. Wenn hierdurch Datenmengen aussortiert werden, welche ersichtlich keine Relevanz für das gegenständliche Verfahren haben, beschränkt dies die Verteidigung nicht in einer den Grundsatz des fairen Verfahrens verletzenden Weise. Erst durch die Beschlagnahme nach Durchsicht werden die Daten zu Beweisstücken und damit zu „in den Händen“ der Verfolgungsbehörden befindlichen „sachliche Beweisen“. Dass angesichts ihrer schieren Menge regelmäßig nicht sämtliche auf den nach Durchsicht beschlagnahmten Datenträgern befindlichen Dateien auf ihre Beweisrelevanz überprüft werden können, sondern vielmehr eine kontextbezogene Einordnung hinsichtlich der möglichen Beweiserheblichkeit erfolgen wird, steht nach den Grundsätzen des Gerichtshofs einem Einsichtsrecht der Verteidigung nicht entgegen. Die Entscheidung über die konkrete Ausgestaltung dieses Einsichtsrechts ist dann einer Anfechtung gem. §§ 147 Abs. 1, 32f Abs. 3 StPO entzogen.
Auch das Bundesverfassungsgericht weist im Rahmen seiner Entscheidung zur Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails explizit darauf hin, dass das Verfahrensstadium der Durchsicht gem. § 110 StPO der endgültigen Entscheidung über den Umfang der Beschlagnahme vorgelagert ist. Es entspreche dem Zweck des § 110 StPO, im Rahmen des technisch Möglichen und Vertretbaren lediglich diejenigen Informationen einem dauerhaften und damit vertiefenden Eingriff zuzuführen, die verfahrensrelevant und verwertbar sind. Während das Verfahren der Durchsicht auf der Grundlage der vorläufigen Sicherstellung zum Zweck der Feststellung der potenziellen Beweiserheblichkeit und -verwertbarkeit auf die Vermeidung eines dauerhaften und umfassenden staatlichen Zugriffs nebst den hiermit verbundenen Missbrauchsgefahren abziele, würde bei einer endgültigen, bis zum Verfahrensabschluss wirkenden Beschlagnahme der staatliche Zugriff zeitlich perpetuiert und damit erheblich intensiviert. Sei den Strafverfolgungsbehörden im Verfahren der Durchsicht unter zumutbaren Bedingungen jedoch eine materielle Zuordnung der verfahrenserheblichen E-Mails einerseits oder eine Löschung oder Rückgabe der verfahrensunerheblichen E-Mails an den Nutzer andererseits nicht möglich, stehe der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit der Maßnahme einer Beschlagnahme des gesamten Datenbestands nicht entgegen. Es müsse dann aber im jeweiligen Einzelfall geprüft werden, ob der umfassende Datenzugriff dem Übermaßverbot Rechnung trage.
Diese, anhand der Problematik der Sicherstellung von E-Mails entwickelten Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts beanspruchen auch in vorliegender Fallkonstellation Geltung.