Das Sozialgericht Gießen hat mit Beschluss vom 29.10.2020 zum Aktenzeichen S 18 SO 146/20 ER im Verfahren um Eingliederungshilfe in Form eines persönlichen Budgets entschieden, dass es mit dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar ist, den Erlass einer einstweiligen Anordnung wegen des Fehlens einer Zielvereinbarung und einer entsprechenden Hilfeplanung abzulehnen.
Aus der Pressemitteilung des SG Gießen vom 19.11.2020 ergibt sich:
Unter den Voraussetzungen des § 29 SGB IX besteht ein Rechtsanspruch des Leistungsberechtigten auf die Ausführung der Leistungen in Form eines persönlichen Budgets. Wenn die übrigen Voraussetzungen für einen Anspruch auf ein persönliches Budget vorliegen, ist der Leistungsträger zum Abschluss einer Zielvereinbarung nach § 29 Abs. 4 SGB IX verpflichtet.
Die Beteiligten streiten über die Höhe von Eingliederungshilfeleistungen in der Ausführungsform eines persönlichen Budgets. Die 2001 geborene, im Landkreis Gießen lebende Antragstellerin leidet an einer spinalen Muskelatrophie Typ IIa. Sie benötigt eine 24-Stunden-Assistenz, worüber die Beteiligten nicht streiten. Am 11.02.2020 beantragte die Antragstellerin Leistungen für ein persönliches Budget. Mit Schreiben vom 02.10.2020 erhielt sie die Zulassung für das Wintersemester 2020/2021 an der Hochschule Mannheim (Bachelorstudiengang „Soziale Arbeit“). Nachdem bis zu diesem Zeitpunkt keine Zielvereinbarung abgeschlossen wurde, machte die Antragstellerin mit ihrem Eilantrag ihren Rechtsanspruch auf ein persönliches Budget geltend.
Das SG Gießen hat der Antragstellerin Recht gegeben.
Nach Auffassung des Sozialgerichts war der Antragstellerin vorläufig ein persönliches Budget zu gewähren. Es sei nur noch streitig die Höhe der Leistungserbringung. Während der Antragsgegner eine Berechnung vorlegte, aus der sich ein monatlicher Auszahlungsbetrag in Höhe von 12.782,50 Euro ergab, berechnete die Antragstellerin die Gesamtkosten auf 17.808,52 Euro monatlich. Auf das persönliche Budget bestehe ein Rechtsanspruch gemäß § 29 SGB IX.
Auch wenn der Abschluss einer Zielvereinbarung unabdingbare Voraussetzung für die Gewährung eines persönlichen Budgets sei, so sei davon im einstweiligen Rechtsschutzverfahren aus mehreren Gründen abzusehen: Der Rechtsanspruch auf ein persönliches Budget laufe ins Leere, wenn der Leistungsträger durch sein Unterlassen beliebig den Abschluss einer Zielvereinbarung verhindern könne.
Eine Ausnahme sah das Sozialgericht nur dann, wenn sich schon im Vorfeld des Abschlusses der Zielvereinbarung Anhaltspunkte dafür ergäben, dass der Leistungsträger sofort nach § 29 Abs. 4 Satz 6 SGB IX kündigen werde. Das wäre nur der Fall, wenn absehbar wäre, dass der Leistungsberechtigte etwa Nachweise zur Bedarfsdeckung und Qualitätssicherung nicht erbringen werde.
Da die Antragstellerin einen Anspruch auf ein persönliches Budget habe, dürfe der Antragsgegner die Antragstellerin nicht dazu zwingen, diese zu den von ihm aufgestellten Bedingungen zu zahlen. Das Gericht konnte offenlassen, wie sich das Fehlen der Zielvereinbarung im Hauptsacheverfahren auswirke. Im Lichte des Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) müsse im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ein persönliches Budget ohne Zielvereinbarung gewährt werden, weil ansonsten keine Leistungsgewährung möglich wäre. Hinsichtlich des Umfangs des persönliches Budgets orientierte sich das Gericht an den Angaben der Gewerkschaft ver.di (3.60 „Tariflöhne sind für mich existenziell“). Danach koste eine 24-Stunden-Assistenz bei Tariflöhnen zwischen 17.000 und 20.000 Euro im Monat.
Der Beschluss ist nicht rechtskräftig.