Der Europäische Gerichtshof hat am 08.03.2022 zum Aktenzeichen C-213/19 entschieden, dass das Vereinigte Königreich dadurch gegen seine Verpflichtungen in Bezug auf die Zollkontrolle und die Bereitstellung von Eigenmitteln der Union verstoßen hat, dass es nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um Betrug durch unterbewertete Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China zu bekämpfen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 42/2022 vom 08.03.2022 ergibt sich:
Das Vereinigte Königreich hätte die Risikoprofile und die Arten von Zollkontrollen berücksichtigen müssen, die ihm vom OLAF und von der Kommission empfohlen wurden.
Mit Wirkung vom 1. Januar 2005 hob die Europäische Union alle Einfuhrkontingente für Textil- und Bekleidungserzeugnisse mit Ursprung u. a. in China auf.
In den Jahren 2007, 2009 und 2015 richtete das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) Mitteilungen über gegenseitige Amtshilfe an die Mitgliedstaaten, um sie u. a. über die Gefahr einer extremen Unterbewertung der Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China zu informieren, die in den meisten Fällen von „Scheingesellschaften“ („shell companies“) durchgeführt würden; diese seien allein zu dem Zweck errichtet worden, einem betrügerischen Vorgang den Anschein der Rechtmäßigkeit zu geben. Das OLAF forderte alle Mitgliedstaaten auf, ihre Einfuhren solcher Waren zu überwachen, geeignete Zollkontrollen durchzuführen und, falls der Verdacht bestehe, dass in Rechnung gestellte Preise künstlich niedrig seien, angemessene Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
Zu diesem Zweck entwickelte das OLAF ein auf unionsweit erhobenen Daten beruhendes Instrument zur Risikobewertung. Dabei wird anhand „bereinigter Durchschnittspreise“ („cleaned average prices“) ein „niedrigster annehmbarer Preis“ („lowest acceptable price“) errechnet, der als Risikoschwelle oder -profil dient, um es den Zollbehörden der Mitgliedstaaten zu ermöglichen, besonders niedrige bei der Einfuhr angemeldete Werte und damit Einfuhren mit erheblichem Unterbewertungsrisiko aufzuspüren.
In den Jahren 2011 und 2014 nahm das Vereinigte Königreich an Überwachungsmaßnahmen der Kommission und des OLAF teil, mit denen bestimmten Gefahren des Betrugs durch Unterbewertung entgegengewirkt werden sollte. Das Vereinigte Königreich wandte jedoch weder die anhand der Methode des OLAF ermittelten „niedrigsten annehmbaren Preise“ an, noch setzte es die von seinen Behörden nach einer solchen Maßnahme erlassenen zusätzlichen Zahlungsaufforderungen um.
Bei mehreren bilateralen Treffen empfahl das OLAF den zuständigen Behörden des Vereinigten Königreichs, auf die unionsweiten Risikoindikatoren in Form der „niedrigsten annehmbaren Preise“ zurückzugreifen. Das OLAF wies darauf hin, dass betrügerische Einfuhren in das Vereinigte Königreich wegen der unzureichenden Kontrollen durch dessen Zollbehörden erheblich zugenommen hätten, wobei auf andere Mitgliedstaaten abzielende betrügerische Handlungen in das Vereinigte Königreich verlagert worden seien. Nach den Angaben des OLAF folgte das Vereinigte Königreich seinen Empfehlungen jedoch nicht, sondern überführte die betreffenden Waren ohne angemessene Zollkontrollen in den freien Verkehr im Binnenmarkt; deshalb sei ein erheblicher Teil der geschuldeten Zölle weder erhoben noch der Europäischen Kommission zur Verfügung gestellt worden.
Da die Kommission der Ansicht war, dass das Vereinigte Königreich hinsichtlich bestimmter Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China weder die korrekten Zollbeträge buchmäßig erfasst noch ihr die korrekten Beträge an traditionellen Eigenmitteln und Mehrwertsteuereigenmitteln zur Verfügung gestellt hatte, hat sie eine Klage auf Feststellung erhoben, dass dieser Staat gegen seine Verpflichtungen aus den Rechtsvorschriften der Union über die Kontrolle und Überwachung im Bereich der Einziehung der Eigenmittel, das Zollrecht und die Mehrwertsteuer verstoßen hat.
Mit ihrem Urteil gibt die Große Kammer des Gerichtshofs der Klage der Kommission teilweise statt und entscheidet im Wesentlichen, dass das Vereinigte Königreich dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, dass es hinsichtlich bestimmter Einfuhren von Textilien und Schuhen aus China weder wirksame Zollkontrollen vorgenommen noch die korrekten Zollbeträge buchmäßig erfasst und der Kommission die korrekten Beträge an traditionellen Eigenmitteln zur Verfügung gestellt hat1, sowie dadurch, dass es der Kommission nicht alle Informationen übermittelt hat, die erforderlich waren, um die noch geschuldeten Zölle und Eigenmittel zu berechnen2.
Zur Ermittlung der Höhe der Verluste an Eigenmitteln, die die Kommission in ihrer Klageschrift geltend gemacht hat, nämlich ein bestimmter Betrag für jedes Jahr des Zeitraums der Zuwiderhandlung, insgesamt 2 679 637 088,86 Euro, führt der Gerichtshof aus, dass es in einer Situation, in der wegen des Versäumnisses der Zollbehörden, Kontrollen zur Überprüfung des tatsächlichen Wertes der Waren durchzuführen, keine Nachprüfungen vorgenommen werden können, zulässig ist, statt einer Methode, die darauf abzielt, den Zollwert der betreffenden Waren auf der Grundlage unmittelbarer Beweise zu ermitteln, eine auf statistischen Daten beruhende Methode heranzuziehen.
Die vom Gerichtshof im Rahmen des vorliegenden Verfahrens vorzunehmende Prüfung muss hauptsächlich dahin gehen, ob die Heranziehung einer solchen Methode angesichts der besonderen Umstände des konkreten Falles gerechtfertigt war und ob sie hinreichend genau und zuverlässig war.
Insoweit weist der Gerichtshof die von der Kommission vorgenommene Berechnung teilweise zurück, weil eine Unstimmigkeit zwischen den Anträgen in der Klageschrift und deren Begründung besteht, aus der sich erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich der Richtigkeit der von der Kommission verlangten Eigenmittelbeträge ergeben, so dass sie nicht für alle diese Beträge rechtlich hinreichende Nachweise erbracht hat.
Angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Falles billigt der Gerichtshof hingegen die von der Kommission zur Schätzung der Verluste an traditionellen Eigenmitteln während eines Teils des Zeitraums der Zuwiderhandlung herangezogene Methode, weil sie hinreichend genau und zuverlässig ist und nicht dazu führt, dass die genannten Verluste offensichtlich zu hoch angesetzt werden.
Der Gerichtshof fügt hinzu, dass es ihm nicht obliegt, anstelle der Kommission selbst die genauen Beträge der vom Vereinigten Königreich geschuldeten traditionellen Eigenmittel zu berechnen. Er kann zwar den Anträgen in der Klageschrift der Kommission ganz oder teilweise stattgeben oder sie ganz oder teilweise zurückweisen, nicht aber ihre Tragweite ändern. Dagegen ist es Sache der Kommission, die noch auszugleichenden Verluste an Eigenmitteln der Union unter Berücksichtigung der Erwägungen, die im Urteil des Gerichtshofs zum Umfang der Verluste und zu dem ihnen beizumessenden Wert angestellt werden, neu zu berechnen.
1 Diese Vertragsverletzung betrifft die Verpflichtungen, die dem Vereinigten Königreich u. a. gemäß Art. 310 Abs. 6 und Art. 325 AEUV, der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1), der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) und der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, berichtigt in ABl. 2007, L 335, S. 60) oblagen.
2 Genauer gesagt hat das Vereinigte Königreich dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV (Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit) verstoßen, dass es der Kommission nicht alle Informationen übermittelt hat, die erforderlich waren, um die Verluste an traditionellen Eigenmitteln zu ermitteln, und dem Ersuchen nicht nachgekommen ist, die Gründe der Entscheidungen mitzuteilen, mit denen die festgestellten Zollschulden annulliert wurden.