Das Amtsgericht München hat mit Urteil vom 22.11.2019 zum Aktenzeichen 411 C 19436/18 entschieden, dass ein fast 90-jähriger Münchner trotz berechtigter Eigenbedarfskündigung nach 44 Jahren weiterhin in seiner Wohnung bleiben darf, da ein Umzug dem Rentner aufgrund einer potentiell bestehenden Selbstmordgefahr nicht zuzumuten ist.
Aus der Pressemitteilung des Amtsgerichts München Nr. 92/2019 vom 22.11.2019 ergibt sich:
Der beklagte fast 90-jährige Mieter hatte mit seiner damals noch lebenden Ehefrau vom Voreigentümer 1975 eine Drei-Zimmer-Wohnung, 1. OG, 80 m², in München-Neuperlach angemietet und zahlt dafür zuzüglich Garage an die Klägerin aktuell 996,89 Euro monatlich warm. Die Vermieterin bewohnt mit ihrer erwachsenen Tochter eine Zwei-Zimmer-Wohnung, während ihr ebenfalls erwachsener Sohn nach Trennung von seiner Freundin ein 9m² großes Zimmer bei seinem Vater bewohnt. Dieser Sohn hatte in zwei familiengerichtlichen Verfahren nun drei Tage Umgang mit dem gemeinsamen Kind erreicht, davon einmal mit Übernachtung bei ihm. In der 52 m² Wohnung des Opas muss für letztere jeweils umgebaut werden. Die Klägerin kündigte dem Beklagten, mit Schreiben vom 24.02.2018 unter Benennung des geschilderten Eigenbedarfs zum 30.11.2018. In seinem Namen legte der Mieterverein München e.V. mit Schreiben vom 26.09.2018, dessen Zugang innerhalb der gesetzlichen Sechsmonatsfrist bei der Klägerin streitig war, Widerspruch gegen die Eigenbedarfskündigung ein und benennt dort als Härtegründe Hüft- und Kniegelenkserkrankungen sowie seine langjährige Verwurzelung im Wohnumfeld. Die Klägerin behauptet, dass der Beklagte in der näheren Umgebung eine Ersatzwohnung finden könne, wenn er sich nur ausreichend darum bemühe. Die Wohnung sei nur über mehrere Treppenstufen erreichbar, also nicht altersgerecht. Man würde den Beklagten tatkräftig bei seinem Umzug unterstützen, der überdies ja noch zweimal die Woche nach Riem fahren könne, um dort im Tierheim zu helfen. Der Beklagte gibt an, seit der Kündigung fünf Kilo abgenommen und auf 26 Bewerbungen nur Absagen erhalten zu haben. Einer Rücknahme der Klage, von der Klägerin nach Eingang des gerichtlich erholten Sachverständigengutachtens erklärt, stimmt er nicht zu.
Das AG München hat die Klage auf Räumung und Herausgabe der Wohnung abgewiesen und die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Dauer angeordnet.
Nach Auffassung des Amtsgerichts hat die Anhörung der Beteiligten und die durchgeführte Beweisaufnahme ergeben, dass der behauptete Eigenbedarf tatsächlich besteht. Die Klägerin und ihr Sohn der Klägerin hätten bei ihrer Vernehmung glaubwürdig und glaubhaft ausgesagt, dass der Sohn die streitgegenständliche Wohnung für sich und das Umgangsrecht mit seinem Sohn benötige und dort einziehen möchte.
Der Mieter könne allerdings gemäß § 574 BGB einer an sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter eine Härte bedeuten würde, die auch unter der Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen sei. Nach der Beweisaufnahme sei der Widerspruch rechtzeitig erfolgt. Vorliegend habe der Beklagte bisher noch keine ausreichenden Bemühungen unternommen, eine Ersatzwohnung zu finden. Die Beweisaufnahme habe zur Überzeugung des Amtsgerichts ergeben, dass der Beklagte entsprechend dieser langen Wohndauer in dem Viertel Neuperlach stark verwurzelt sei. Letztlich war in der Abwägung ausschlaggebend das Ergebnis des schriftlichen Gutachtens des vom Gericht bestellten Sachverständigen. Danach wurde der psychische Gesundheitszustand des Beklagten schon als Folge der Kündigung bereits erheblich beeinträchtigt. Hierdurch habe sich eine mittelschwere depressive Episode manifestiert. Durch einen Umzug würde sich sein psychisches Befinden aller Wahrscheinlichkeit nach noch weiter verschlechtern, bis hin zu einer schweren depressiven Episode, bei der auch ein Suizid nicht ausgeschlossen werden könne. Zu keinem Zeitpunkt der Untersuchung bestand ein Anhaltspunkt, dass der Beklagte seine Beschwerden stärker beschreiben würde als sie vorliegen oder gar simulieren würde. Für den Fall, dass er aus seiner Wohnung ausziehen müsste, werde konkret der Suizid erwogen. Es handele sich bei ihm um einen alten, alleinstehenden Mann mit einer depressiven Episode und einem ungelösten Problem, nämlich dem Verlust seiner Wohnung und seines Lebensmittelpunktes. Er sei daher als erheblich gefährdet anzusehen. Unter Berücksichtigung dieser Gefährdung sei eine Räumung der Wohnung für den Beklagten nicht zumutbar. Nachdem auch nicht absehbar sei, ob und wann die festgestellte Gefährdung nicht mehr bestehe, war das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortzusetzen.