Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 15.06.2021 zum Aktenzeichen 62903/15 in einem Fall von häuslicher Gewalt erstmals mit den Grundprinzipien auseinandergesetzt, die in Fällen häuslicher Gewalt für die Feststellung der Verletzung von Art. 2 EMRK zur Anwendung kommen sollen.
Aus BRAK, Nachrichten aus Brüssel Nr. 13/2021 vom 24.06.2021 ergibt sich:
Im Fall ging es um einen achtjährigen Jungen, der von seinem eigenen Vater erschossen worden war. Dieser hatte sich zuvor gewalttätig gezeigt und war von seiner Ehefrau kurz vor der Tat u.a. wegen Vergewaltigung und schwerer Drohung angezeigt worden. Geklagt hatte die Mutter, die den österreichischen Behörden vorwarf, sie und ihre Kinder nicht ausreichend geschützt zu haben, was zum Mord an dem Kind geführt habe.
Der Gerichtshof setzte sich sodann mit den in einem solchen Fall notwendigen, durch die Strafverfolgungsbehörden zu ergreifenden Maßnahmen auseinander und befand mit zehn zu sieben Stimmen, dass eine Verletzung des durch Art. 2 EMRK geschützten Rechts auf Leben nicht vorliegt.
Der Gerichtshof hat sich in der Entscheidung erstmals mit den Grundprinzipien auseinandergesetzt, die in Fällen häuslicher Gewalt für die Feststellung der Verletzung von Art. 2 EMRK zur Anwendung kommen sollen. Ausgehend vom sog. Osman-Test der gleichnamigen Entscheidung aus dem Jahr 1998, stellte der Gerichtshof fest, dass die Behörden unmittelbar auf den Vorwurf der häuslichen Gewalt reagieren und dass sie dabei mit besonderer Sorgfalt vorgehen müssen. Sie müssen mittels autonomer, proaktiver und umfassender Risikoanalyse feststellen, ob eine echte und unmittelbar bevorstehende Gefahr für das Leben einzelner oder mehrerer Opfer vorliegt.
Sieben Richter weisen in zwei Sondervoten darauf hin, dass die von den Behörden durchgeführte Risikoanalyse nicht hinreichend adäquat und umfassend gewesen sei und im Detail zahlreiche Mängel aufweise.