Der Europäische Gerichtshof hat am 15.04.2021 zum Aktenzeichen C-194/19 entschieden, dass ein Asylbewerber Umstände, die nach dem Erlass einer Überstellungsentscheidung eingetreten sind, gegen die er Klage erhebt, geltend machen können muss.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 55/2021 vom 15.04.2021 ergibt sich:
Es ist Sache jedes Mitgliedstaats, die Verfahrensmodalitäten der gerichtlichen Rechtsbehelfe festzulegen, die diesen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz sicherstellen sollen.
Der Drittstaatsangehörige H. A. beantragte in Belgien Asyl. Da die spanischen Behörden zugesagt hatten, ihn aufzunehmen, wurde sein Antrag allerdings zurückgewiesen, und es wurde ihm gegenüber eine Entscheidung über seine Überstellung nach Spanien erlassen. Kurz darauf reiste der Bruder von H. A. ebenfalls nach Belgien ein und stellte dort einen Asylantrag. H. A. legte daraufhin eine Beschwerde gegen die ihn betreffende Überstellungsentscheidung ein und machte u. a. geltend, dass ihre jeweiligen Asylanträge zusammen geprüft werden müssten.
Diese Beschwerde wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Bruder von H. A. nach dem Erlass der streitigen Entscheidung nach Belgien eingereist sei und dass dieser Umstand daher für die Prüfung von deren Rechtmäßigkeit nicht berücksichtigt werden könne. H. A. legte beim Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) Kassationsbeschwerde ein und machte einen Verstoß gegen sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, wie es sich aus der Dublin III-Verordnung und aus Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ergebe, geltend. Unabhängig von der Frage, ob sich die Einreise seines Bruders tatsächlich darauf auswirken kann, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags von H. A. zuständig ist, muss der Conseil d’État (Staatsrat) prüfen, ob sich ein Asylbewerber auf nach dem Erlass einer ihn betreffenden Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände berufen kann. Er hat beschlossen, dazu den Gerichtshof zu befragen.
In einem Urteil der Großen Kammer entscheidet der Gerichtshof, dass das Unionsrecht (Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung, im Licht von deren 19. Erwägungsgrund betrachtet, sowie Art. 47 der Charta) nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass das mit einer Nichtigkeitsklage gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht im Rahmen der Prüfung dieser Klage nach dem Erlass dieser Entscheidung eingetretene Umstände, die für die korrekte Anwendung der Dublin-III-Verordnung entscheidend sind, nicht berücksichtigen darf. Anders verhält es sich, wenn diese Vorschriften einen besonderen Rechtsbehelf vorsehen, der nach dem Eintritt solcher Umstände eingelegt werden kann, sofern dieser Rechtsbehelf eine Ex-nunc-Prüfung der Situation der betreffenden Person beinhaltet, an deren Ergebnisse die zuständigen Behörden gebunden sind.
Würdigung durch den Gerichtshof
Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Dublin-III-Verordnung (Art. 27 Abs. 1 und 19. Erwägungsgrund der Dublin-III-Verordnung) vorsieht, dass einer Person, gegen die eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung zusteht und dass dieser Rechtsbehelf u. a. die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung beinhalten muss. Er weist auch darauf hin, dass er entschieden hat, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt, über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können muss, der es ihr ermöglicht, sich auf nach dem Erlass einer Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände zu berufen, wenn deren Berücksichtigung für die ordnungsgemäße Anwendung der Dublin-III-Verordnung entscheidend ist (Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri, C-201/16 und Urteil vom 25. Januar 2018, Hasan, C-360/16).
Der Gerichtshof hebt jedoch hervor, dass die Mitgliedstaaten gleichwohl nicht verpflichtet sind, ihr Rechtsbehelfssystem so zu organisieren, dass das Erfordernis, solche Umstände zu berücksichtigen, im Rahmen der Prüfung der Klage, mit der die Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung in Frage gestellt werden kann, gewährleistet wird. Der Unionsgesetzgeber hat nämlich nur bestimmte Verfahrensmodalitäten des Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung harmonisiert, und in der Dublin-III-Verordnung wird nicht klargestellt, ob er zwangsläufig verlangt, dass das damit befasste Gericht die Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung ex nunc prüfen kann. Nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie ist es daher Sache jedes Mitgliedstaats, diese Modalitäten festzulegen, wobei diese jedoch nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz).
Im vorliegenden Fall führt der Gerichtshof speziell in Bezug auf den Effektivitätsgrundsatz aus, dass eine gegen eine Überstellungsentscheidung erhobene Nichtigkeitsklage, in deren Rahmen das angerufene Gericht nach dem Erlass dieser Entscheidung eingetretene Umstände, die für die korrekte Anwendung der Dublin III-Verordnung entscheidend sind, nicht berücksichtigen darf, keinen ausreichenden gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet, da die betreffende Person nicht die Rechte ausüben kann, die ihr nach dieser Verordnung und Art. 47 der Charta zustehen. Der Gerichtshof fügt allerdings hinzu, dass ein solcher Schutz im Rahmen des insgesamt betrachteten nationalen gerichtlichen Systems durch einen besonderen Rechtsbehelf sichergestellt werden kann, der sich von einem Rechtsbehelf unterscheidet, der die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Überstellungsentscheidung sicherstellen soll, und der erlaubt, solche Umstände zu berücksichtigen. Dieser besondere Rechtsbehelf muss jedoch der betreffenden Person die Möglichkeit garantieren, zu erreichen, dass die zuständigen Behörden des ersuchenden Mitgliedstaats, wenn ein nach der Überstellungsentscheidung eingetretener Umstand deren Durchführung entgegensteht, diese Person nicht in einen anderen Mitgliedstaat überstellen können. Er muss auch sicherstellen, wenn ein nach der Überstellungsentscheidung eingetretener Umstand bedeutet, dass der ersuchende Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, dass die zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats verpflichtet sind, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um diese Zuständigkeit anzuerkennen und unverzüglich mit der Prüfung dieses Antrags zu beginnen. Außerdem darf die Ausübung dieses besonderen Rechtsbehelfs weder davon abhängig gemacht werden, dass der betreffenden Person die Freiheit entzogen wurde, noch davon, dass die Durchführung der betreffenden Überstellungsentscheidung unmittelbar bevorsteht.