Dienstfähigkeit wird vorläufig nicht untersucht

14. Juli 2020 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 13. Mai 2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 652/20 der Bundesrepublik Deutschland bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, längstens für sechs Monate, untersagt, die Dienstfähigkeit des Beschwerdeführers auf der Grundlage der Anordnung vom 2. Dezember 2019 untersuchen zu lassen.

Der Beschwerdeführer steht als Polizeiobermeister der Bundespolizei im Dienst der Bundesrepublik Deutschland. Auf Anordnung der zuständigen Bundespolizeidirektion unterzog sich der Beschwerdeführer im Frühjahr 2019 einer amtsärztlichen Untersuchung. Der Amtsarzt kam in seinem Gutachten vom 28. Mai 2019 zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer für den Polizeivollzugsdienst aufgrund einer Suchterkrankung nicht uneingeschränkt geeignet sei und dass sich dies auch innerhalb der kommenden zwei Jahre nicht ändern werde. Er könne allenfalls im Innen- oder Verwaltungsdienst ohne Schichttätigkeit verwendet werden; für den allgemeinen Verwaltungsdienst sei er gesundheitlich geeignet.

Nach einem weiteren Rückfall im Oktober 2019 erließ die Bundespolizei am 2. Dezember 2019 gegenüber dem Beschwerdeführer die streitgegenständliche Untersuchungsanordnung. Im Rahmen der Untersuchung seien unter anderem die Fragen zu klären, ob der Beschwerdeführer für den Polizeivollzugsdienst gesundheitlich uneingeschränkt geeignet sei oder innerhalb der nächsten zwei Jahre die volle Verwendungsfähigkeit für den Polizeivollzugsdienst wiedererlangen werde, sowie ob er für eine Verwendung im allgemeinen Verwaltungsdienst einschließlich erforderlicher Umschulungsmaßnahmen gesundheitlich geeignet sei und innerhalb von sechs Monaten seine uneingeschränkte Dienstfähigkeit für den allgemeinen Verwaltungsdienst wiedererreichen werde. Bei der Untersuchung, die auch ein Belastungs-EKG umfassen könne, werde eine komplette körperliche Untersuchung bezogen auf die Dienstfähigkeit beziehungsweise Polizeidienstfähigkeit erfolgen, insbesondere würden Sehfähigkeit, Hörfähigkeit, Herz-Kreislauf-System, Lunge, Bewegungsapparat, Blut und Urin untersucht.

Daraufhin beantragte der Beschwerdeführer beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main, seinem Dienstherrn den Vollzug der Untersuchungsanordnung im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen. Zur Begründung trug er unter anderem vor, dass die angeordnete Untersuchung nicht vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gedeckt sei. Die Untersuchungsmethoden seien zwar möglicherweise geeignet, seine Polizeivollzugsdienstfähigkeit zu überprüfen. Diese sei aber bereits im Gutachten vom 28. Mai 2019 für die nächsten zwei Jahre ausgeschlossen worden.

Mit Beschluss vom 22. Januar 2020 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab. Die Untersuchungsanordnung erweise sich nach summarischer Prüfung als rechtmäßig. Es lägen tatsächliche Feststellungen vor, die hinreichende Zweifel an der Dienstfähigkeit des Beschwerdeführers begründeten. Dieser leide an einer Suchterkrankung, habe einen weiteren Rückfall erlitten und sei zum Zeitpunkt der Anordnung bereits seit sieben Wochen dienstunfähig erkrankt gewesen. Ein Rückfall – gerade in Anbetracht der langen Fehlzeit und der Vorgeschichte – lasse den Schluss zu, dass erneut Alkohol in körperlich schädigender Menge getrunken worden sei und eine (weitere) Veränderung der Persönlichkeit eingetreten sein könne. Der Dienstherr komme mit der Anordnung einer ärztlichen Untersuchung seiner „Fürsorgepflicht […] nach, einen aktuellen Gesundheitsstatus zu erhalten, der unter Umständen eine neue Beurteilung der (Polizei-)Dienstfähigkeit mit sich bringen […] oder aber auch den bisherigen bestätig[en]“ könne.

Die hiergegen gerichtete Beschwerde, in der der Beschwerdeführer erneut dazu vortrug, warum die angeordnete komplette körperliche Untersuchung mit Blick auf die bereits getroffenen gutachterlichen Feststellungen unverhältnismäßig sei, wies der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 10. März 2020 zurück. Es könne offenbleiben, ob § 44a VwGO der Zulässigkeit des Antrags entgegenstehe, weil er jedenfalls unbegründet sei, da die Untersuchungsanordnung den formellen wie materiellen Anforderungen genüge. Insbesondere sei sie geeignet, die Frage des aktuellen Gesundheitszustandes und etwaige Auswirkungen des letzten Rückfalls auf die Dienstfähigkeit (insbesondere im allgemeinen Verwaltungsdienst) zu klären. Die Maßnahme sei auch angemessen, da sie lediglich mit einer kurzfristigen Einschränkung geringer Eingriffsintensität verbunden sei.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, durch die Untersuchungsanordnung und die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 2 GG – jeweils auch in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG – verletzt zu sein. Unter anderem hebt er erneut darauf ab, dass die Untersuchung im angeordneten Umfang nicht erforderlich und deshalb unverhältnismäßig sei.

Zugleich hat der Beschwerdeführer den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG beantragt. Die Möglichkeit einer Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht müsse offengehalten werden. Eine Folgenabwägung falle zu seinen Gunsten aus. Dem Dienstherrn müsse der Vollzug der Untersuchungsanordnung sogar bis zum rechtskräftigen Abschluss des nach erfolgreicher Verfassungsbeschwerde wieder beim Verwaltungsgerichtshof rechtshängigen Eilverfahrens untersagt werden, weil dieser bis zum Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO nicht am Vollzug gehindert sei und sich die Verwaltungsgerichte geweigert hätten, eine Zwischenverfügung zu erlassen.

Nachdem der ursprünglich für März 2020 vorgesehene Untersuchungstermin aufgehoben worden war, bestimmte die zuständige Bundespolizeidirektion einen neuen Untersuchungstermin für den 4. Juni 2020, den sie später auf den 9. Juni 2020 verlegte. Mit der Zustellung der Verfassungsbeschwerde wurde sie um Mitteilung gebeten, ob dieser im Hinblick auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren aufgehoben werde. Dies wurde mit Schreiben vom 11. Mai 2020 verneint.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat überwiegend Erfolg.

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).

Ausgehend davon ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang geboten.

Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es erscheint auf der Grundlage des Vortrags des Beschwerdeführers vielmehr möglich, dass die angegriffene Untersuchungsanordnung und die nachfolgenden Entscheidungen der Verwaltungsgerichte ihn in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzen.

Die daher gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG erforderliche Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Sollte sich herausstellen, dass die Verfassungsbeschwerde unbegründet ist, wäre es lediglich zu einer (weiteren) Verzögerung der Untersuchung um einige Monate gekommen. Angesichts des Umstandes, dass diese nicht auf die Feststellung akuter Einschränkungen, sondern auf die Begutachtung möglicher Langzeitschäden der Suchterkrankung gerichtet ist, wäre hiermit voraussichtlich kein Beweisverlust verbunden. Allenfalls würde eine sich möglicherweise anschließende Zurruhesetzung später eingeleitet werden können. Erginge die einstweilige Anordnung hingegen nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, müsste sich der Beschwerdeführer in der Zwischenzeit einer verfassungswidrigen Untersuchung unterziehen, wenn er das Risiko vermeiden wollte, dass eine Verweigerung der Untersuchung später als unzulässige Beweisvereitelung behandelt werden könnte.