Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 12. November 2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 1532/20 entschieden, dass eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne Abwarten der angekündigten Begründung verfassungswidrig ist.
Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben erstmals im Juni 2015 in das Bundesgebiet ein.
Mit Bescheid der zuständigen Ausländerbehörde vom 27. August 2019 wurde der Beschwerdeführer aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Ihm wurde vorgeworfen, sich einen Aufenthaltstitel erschlichen zu haben, indem er im August 2018 beim Bürgeramt eine Niederlassungserlaubnis in seinen neu ausgestellten türkischen Nationalpass übertragen lassen habe, obwohl ihm eine solche zu keinem Zeitpunkt erteilt worden sei. Gegen diesen Bescheid, der öffentlich zugestellt wurde, erhob der Beschwerdeführer am 17. Februar 2020 Klage.
Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem Einzelnen ein Recht darauf, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt zu äußern, damit er Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen kann. Einer gerichtlichen Entscheidung dürfen daher grundsätzlich nur solche Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten.
Gemessen daran hat das Verwaltungsgericht den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil es dem Beschwerdeführer keine ausreichende Gelegenheit zur Begründung seines Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gegeben hat.
Der Beschwerdeführer hat sich eine Begründung seines Antrags bei Antragstellung ausdrücklich vorbehalten. Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, wie der Vorbehalt des Beschwerdeführers vorliegend auszulegen war. Zwar dürften die Ausführungen des Prozessbevollmächtigten in der Antragsschrift entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht dahingehend zu verstehen gewesen sein, dass dieser sich eine Begründung lediglich offengehalten hat und damit auch die Möglichkeit bestand, dass eine Antragsbegründung nicht erfolgen wird. Die Formulierung („Die Begründung bleibt einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten“) legt eher nahe, dass eine Begründung zu einem späteren Zeitpunkt in einem gesonderten Schriftsatz eingereicht werden sollte. Ungeachtet dessen ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer einen Vorbehalt erklärt hat. Selbst wenn das Gericht dabei mit der Möglichkeit gerechnet haben sollte, dass eine Antragsbegründung nicht erfolgen werde, hätte es dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist zur Vorlage setzen oder auf die anstehende Entscheidung hinweisen können. Beides hat es jedoch unterlassen.
Angesichts dessen war der hier verbleibende Zeitraum von vier Tagen bis zur Ablehnung des Antrags unangemessen kurz, weil der Beschwerdeführer noch nicht mit einer Entscheidung rechnen musste.
Im Asylprozess soll die Entscheidung über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsandrohung bei Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet innerhalb von einer Woche nach Ablauf der Ausreisefrist nach Absatz 1 ergehen. Die Kammer des Verwaltungsgerichts kann die Frist um jeweils eine weitere Woche verlängern; dies ist ab der zweiten Verlängerung jedoch nur bei Vorliegen schwerwiegender Gründe zulässig, insbesondere wenn eine außergewöhnliche Belastung des Gerichts eine frühere Entscheidung nicht möglich macht (vgl. § 36 Abs. 3 Satz 6 und 7 AsylG). Die Regelung ist Ausdruck des Beschleunigungswillens des Gesetzgebers. Verfahrensbeteiligte müssen daher damit rechnen, dass über das streitgegenständliche Begehren innerhalb von wenigen Tagen entschieden wird. Auch eine Entscheidung noch vor Beginn der Wochenfrist ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen; eine Pflicht des Gerichts, nach Antragseingang unabhängig vom Inhalt des Antrags mit der Entscheidung zuzuwarten, sieht das Asylgesetz nicht vor. In dieser Situation können diejenigen Antragsteller, die nicht schon mit der Antragsschrift eine vollständige Antragsbegründung verbinden wollen oder können, auf ihre Absicht, eine solche Begründung noch vorlegen zu wollen, ausdrücklich hinweisen. Zwar muss ein Antragsteller auch nach einem solchen Hinweis mit einer Entscheidung des Gerichts vor Ablauf der Wochenfrist rechnen. Art. 19 Abs. 4 GG als Ausprägung des Fairnessgrundsatzes sowie Art. 103 Abs. 1 GG verpflichten allerdings das Gericht, die mitgeteilte Absicht zur (weiteren) Begründung des Antrags zur Kenntnis zu nehmen und in die Gestaltung des weiteren Verfahrensablaufs einfließen zu lassen. Dies kann durch eine dem Antragsteller auferlegte Frist zur Vorlage der angekündigten Begründung oder durch die Mitteilung des beabsichtigten Entscheidungszeitpunkts ebenso geschehen wie durch ein den konkreten Umständen des Einzelfalls genügendes bloßes Zuwarten mit der Entscheidung oder eine andere geeignete Verfahrensweise. Der Antragsteller muss sich allerdings darauf verlassen können, dass seiner Absicht, sein Begehren mit einer Begründung zu versehen, innerhalb des engen durch § 36 Abs. 1 und 3 AsylG gesetzten Rahmens in der Weise Rechnung getragen wird, dass ihm ein realistisch bemessener Zeitraum für die Abfassung und Vorlage der Begründung verbleibt.
Nach diesen Grundsätzen stellt die Verfahrensweise des Verwaltungsgerichts im vorliegenden Einzelfall eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG dar. Der Bescheid des Bundesamts vom 16. Juli 2020 wurde dem Beschwerdeführer am 20. Juli 2020 bekanntgegeben, sodass die Ausreisefrist am 27. Juli 2020 abgelaufen ist. Die Wochenfrist, innerhalb derer das Verwaltungsgericht über den Antrag entscheiden sollte, endete damit am 3. August 2020. Sein Rechtsschutzbegehren hatte der Beschwerdeführer bereits am 23. Juli 2020, dem dritten Tag der Ausreisefrist gemäß § 36 Abs. 1 AsylG, auf elektronischem Wege bei dem Verwaltungsgericht unter Beifügung des Bescheids anhängig gemacht; eine Begründung enthielt die Klage- und Antragsschrift nicht, lediglich den Hinweis auf die Absicht einer gesondert vorzulegenden Begründung. Der angegriffene Beschluss erging am 27. Juli 2020, mithin am letzten Tag der Ausreisefrist, und wurde am 28. Juli 2020, dem ersten Tag der Entscheidungsfrist des § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylG, elektronisch übermittelt. Zu diesem Zeitpunkt musste der Beschwerdeführer noch nicht damit rechnen, dass das Verwaltungsgericht seinen Antrag ablehnen würde, ohne die zuvor angekündigte Begründung abzuwarten, zumal das Verwaltungsgericht auf seine Ankündigung nicht erkennbar reagiert hatte und er deshalb von einem stillschweigenden Einverständnis mit einer realistischen Frist zur Vorlage der Begründung ausgehen durfte. Denn zum einen war der Antragsschrift bisher überhaupt keine Begründung beigefügt, so dass nicht lediglich der Vorbehalt der Übersendung einer „weiteren“ oder vertiefenden Begründung in Rede stand, sondern die erstmalige Mitteilung der für den Antrag geltend gemachten Gesichtspunkte an das Gericht. Zum anderen stand dem Gericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung noch die gesamte Dauer der Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylG zur Verfügung, so dass sich etwa die Frage einer der Kammer vorbehaltenen „Verlängerungsentscheidung“ nach § 36 Abs. 3 Satz 6 AsylG noch nicht stellte. In dieser Situation, in der eine Begründung ausdrücklich angekündigt war und bis zum Ablauf der Wochenfrist nach § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylG noch elf Tage zur Verfügung standen, musste der Beschwerdeführer mit einem Verfahrensabschluss binnen vier Tagen nicht rechnen.