Das Bundeswahlgesetz 2023 ist überwiegend verfassungsgemäß – allein die 5 %-Sperrklausel ist derzeit verfassungswidrig, gilt aber mit bestimmten Maßgaben fort

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 30. Juli 2024 zum Aktenzeichen 2 BvF 1/23, 2 BvR 1547/23, 2 BvR 1523/23, 2 BvE 10/23, 2 BvE 9/23, 2 BvE 2/23, 2 BvF 3/2 entschieden, dass das Zweitstimmendeckungsverfahren in § 1 Abs. 3, § 6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG) mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Die 5 %-Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verstößt aber derzeit gegen Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Bis zu einer Neuregelung gilt sie mit der Maßgabe fort, dass bei der Sitzverteilung Parteien mit weniger als 5 % der Zweitstimmen nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 64/2024 vom 30. Juli 2024 ergibt sich:

Die Bayerische Staatsregierung, 195 Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die CSU richten ihre Anträge insbesondere gegen das neu geregelte Verfahren der Zweitstimmendeckung. Danach erhalten Wahlkreisbewerber mit den meisten Erststimmen nur dann ein Bundestagsmandat, wenn es von dem aus dem Zweitstimmenergebnis ermittelten Sitzkontingent ihrer Partei gedeckt ist. Außerdem greifen die Antragstellenden sowie DIE LINKE, DIE LINKE-Bundestagsfraktion und weitere Einzelpersonen die 5 %-Sperrklausel an. Wegen ihr ziehen nur Bewerber solcher Parteien in den Bundestag ein, die mindestens 5 % der bundesweiten Zweitstimmen erhalten haben. Nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf hätten dafür, wie auch bisher, alternativ drei Wahlkreissiege genügt.

Das Zweitstimmendeckungsverfahren ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Entschluss des Gesetzgebers, das Wahlrecht zu reformieren, ist nicht an besondere Voraussetzungen gebunden. Die 5 %-Sperrklausel ist unter den geltenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen nicht in vollem Umfang erforderlich, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern.

Die Entscheidung zur Zweitstimmendeckung ist einstimmig und zur Sperrklausel mit 7 : 1 Stimmen ergangen.

Sachverhalt:

Am 17. März 2023 beschloss der Bundestag mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen Änderungen des BWahlG. Danach sieht das BWahlG für die Bundestagswahl Folgendes vor:

Jeder Wähler hat zwei Stimmen: die Erststimme für die Wahl eines Wahlkreiskandidaten und die Zweitstimme für die Wahl der Landesliste einer Partei. Zunächst werden die 630 Bundestagssitze (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG) auf die Parteien und ihre Landeslisten verteilt: Jede Partei erhält die ihr nach dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis zustehende Sitzzahl (§ 4 Abs. 2 BWahlG). Diese Sitze werden dann auf die Landeslisten der jeweiligen Partei anhand ihrer jeweiligen Anteile an dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis verteilt (§ 4 Abs. 3 BWahlG). Sodann wird die Besetzungsreihenfolge für diese Sitzkontingente bestimmt: Die erfolgreichen Wahlkreisbewerber – also diejenigen mit den meisten Erststimmen ihres Wahlkreises – rücken in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die Spitze der Landesliste ihrer Partei und werden bei der Vergabe der Sitze zuerst berücksichtigt. Übersteigt die Zahl der einer Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis zustehenden Sitze die Zahl ihrer erfolgreichen Wahlkreisbewerber, werden die übrigen Sitze an Listenbewerber vergeben. Übersteigt die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber einer Landesliste die Zahl ihrer nach Zweitstimmen gedeckten Sitze, so erhalten die Wahlkreisbewerber mit den geringsten Erststimmenanteilen keinen Sitz zugeteilt (Zweitstimmendeckungsverfahren, § 6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 BWahlG).

Nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG werden Parteien, die bundesweit weniger als 5 % der Zweitstimmen erhalten haben, nicht bei der Verteilung der Sitze berücksichtigt (5 %-Sperrklausel). Ihre Kandidaten ziehen daher nicht in den Bundestag ein.

Gegen das Zweitstimmendeckungsverfahren und die 5 %-Sperrklausel als nunmehr alleinige Zugangshürde zum Sitzverteilungsverfahren haben die Bayerische Staatsregierung und 195 Mitglieder CDU/CSU-Bundestagsfraktion Normenkontrolle beantragt. Die CSU hat als Partei Organklage gegen den Bundestag wegen des Erlasses des Gesetzes zur Änderung des BWahlG erhoben und greift ebenfalls diese Regelungen an; die CDU ist dieser Organklage beigetreten. Zwei weitere Organklagen der Partei DIE LINKE und der damaligen Bundestagsfraktion DIE LINKE gegen den Bundestag sowie eine Verfassungsbeschwerde von 212 ihrer „Wähler/Sympathisanten“ wenden sich inhaltlich gegen die nicht mehr mit einer „Grundmandatsklausel“ versehene Sperrklausel. Gegen die Sperrklausel als solche haben auch 4.242 Personen Verfassungsbeschwerde eingelegt.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die Normenkontrollverfahren sind zulässig. Die Organklagen und Verfassungsbeschwerden sind nur teilweise zulässig.

Unzulässig ist insbesondere der Organklageantrag der damaligen Fraktion DIE LINKE. Dabei kann offenbleiben, welche Folgen die Auflösung der Fraktion zum 6. Dezember 2023 für die zuvor eingereichte Organklage hat. Denn es fehlt an der Antragsbefugnis. Eine Fraktion hat weder ein Recht, auch nach der nächsten Wahl im Bundestag vertreten zu sein, noch kann sie sich als Fraktion auf das in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wurzelnde Abgeordnetenrecht auf Beratung und Beschlussfassung im Bundestag berufen.

Die Regelungen des Verfahrens der Zweitstimmendeckung sind mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und Art. 21 Abs. 1 GG vereinbar. Die 5 %-Sperrklausel ist mit diesen Maßstäben unvereinbar.

In formeller Hinsicht sind die angegriffenen Normen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere weist das Gesetzgebungsverfahren keine Umstände auf, die dafür sprechen, dass der Deutsche Bundestag seinen Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der Verfahrensabläufe im Parlament überschritten haben könnte. Zwar ist die Wahlrechtsreform nicht im Konsens beschlossen worden, sondern lediglich mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen. Diese Möglichkeit ist dem Gesetzgeber durch Art. 38 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG jedoch ausdrücklich eröffnet.

Auch der Umstand, dass die im Gesetzentwurf vorgesehene „angepasste Grundmandatsklausel“ (erst) im Zuge der abschließenden Ausschussberatungen gestrichen wurde, stellt keine Missachtung der Abgeordnetenrechte oder des Öffentlichkeitsgrundsatzes dar. Die parlamentarische Beratung dient gerade der Möglichkeit, einen Gesetzentwurf zu verändern. Im vorliegend zu beurteilenden Gesetzgebungsverfahren standen den Abgeordneten ohnehin genügend Informationen über die Bedeutung der „angepassten Grundmandatsklausel“ bzw. Wahlkreisklausel und ihres Fehlens zur Verfügung.

Die Normenkontrollanträge haben teilweise Erfolg.

Für das Wahlrecht weist Art. 38 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Aufgabe der näheren Ausgestaltung zu. Ihre Grenzen findet die gesetzgeberische Gestaltungsbefugnis in den Wahlgrundsätzen nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Danach werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet dabei, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können.

Zudem muss der Wahlgesetzgeber die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) wahren. Danach müssen jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen.

Die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien unterliegen keinem absoluten Differenzierungsverbot. Dem Gesetzgeber verbleibt bei der Ordnung des Wahlrechts ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen.

Nach diesen Maßstäben ist das Zweitstimmendeckungsverfahren mit dem Grundgesetz vereinbar.

Der Gesetzgeber kann Neuerungen einführen, die dem bisherigen Wahlrecht fremd waren und Wählerinnen und Wählern ebenso wie Bewerbern und Parteien ein Umdenken abverlangen. Sein Entschluss, das Wahlrecht zu reformieren, ist nicht an besondere Voraussetzungen gebunden.

Das Zweitstimmendeckungsverfahren stellt keine Abkehr von den Grundzügen des bisherigen Wahlrechts dar. Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums für die Beibehaltung der Wahlkreiswahl sowie der Verhältniswahl nach Landeslisten entschieden.

Den damit zwingend verbundenen Ausgleich zwischen den Ergebnissen der Wahlkreiswahl und der Verhältniswahl hat er hingegen — ebenfalls im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums — neu gestaltet. Nach altem Recht wurden Bundestagsmandate sowohl nach dem Ergebnis der Wahlkreiswahl als auch nach dem Ergebnis der Listenwahl zugeteilt: Zunächst erhielten erfolgreiche Wahlkreisbewerber ein Mandat (Direktmandat). Der Ausgleich erfolgte anschließend, indem beim Sitzzuteilungsverfahren an die Parteien die Wahlkreismandate auf die Sitze der Landeslisten angerechnet wurden.

Nach dem Zweitstimmendeckungsverfahren werden vor dem Ausgleich keine Mandate vergeben. Zunächst erfolgt die Verteilung der 630 Sitze auf die Parteien und ihre Landeslisten. Sodann wird die Besetzungsreihenfolge für jedes dieser Sitzkontingente bestimmt. Hier rücken erfolgreiche Wahlkreisbewerber in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die Spitze der Landesliste. Erst im letzten Schritt erhalten alle Bewerberinnen und Bewerber in dieser Reihenfolge ihre Mandate.

Die Kritik, dass sich der Gesetzgeber nicht entweder für ein reines Mehrheits- oder für ein reines Verhältniswahlrecht entschieden habe, übersieht, dass er nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verhältniswahl mit Elementen der Personenwahl verbinden darf. Aus der Beibehaltung einer Kombination von Verhältniswahl und Wahlkreiswahl folgt jedoch nicht, dass auch das bisherige Ausgleichsverfahren beibehalten werden müsste und nicht neu konzipiert werden könnte. Der Gesetzgeber darf sich für eine andere Kombination entscheiden. Soweit geltend gemacht wird, das Zweitstimmendeckungsverfahren verstoße gegen ein Gebot der Regionalisierung oder der Wahlkreisrepräsentation, finden solche Gebote im Grundgesetz und im bisherigen Wahlrecht keine Stütze.

Die weiter geübte Kritik, die Neuregelung enthalte Widersprüche und dem Zweitstimmendeckungsverfahren fehle es an Folgerichtigkeit, läuft schon deshalb ins Leere, weil sie auf dem gedanklichen Festhalten an Grundsätzen beruht, die den bisherigen Regelungen des Ausgleichs entnommen werden.

Wenn aus einigen Wahlkreisen nicht der Wahlkreisbewerber mit den meisten Stimmen in den Bundestag einzieht, sondern der Wahlkreis durch andere (Listen-)Abgeordnete im Bundestag vertreten wird, kann darin ein Widerspruch nur erkannt werden, wenn für die Wählerinnen und Wähler in einem Wahlkreis die Wahlkreiswahl als die allein maßgebliche Wahl für die Zuteilung eines Mandats angesehen würde. Nach dem Zweitstimmendeckungsverfahren ist jedoch die Wahlkreiswahl gerade nicht allein entscheidend für den Erhalt eines Mandats. Es sorgt vielmehr dafür, dass jeder Abgeordnete des Bundestages durch die Zweitstimmen für seine Partei legitimiert ist.

Das Zweitstimmendeckungsverfahren verletzt die Wahlgleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht.

Zwar werden Wahlstimmen für einen unabhängigen Bewerber im Fall seines Erfolges anders behandelt als Wahlstimmen für Wahlkreisbewerber einer Partei. Insbesondere erhält der unabhängige Bewerber ein Bundestagsmandat gemäß § 6 Abs. 2 BWahlG unabhängig vom Sitzvergabeverfahren nach dem Zweitstimmenergebnis.

Diese Ungleichbehandlung ist jedoch gerechtfertigt. Das Zweistimmenwahlrecht des BWahlG sieht einen Ausgleich zwischen dem Erst- und dem Zweitstimmenergebnis vor. Ist ein solcher Ausgleich ausgeschlossen, weil zwischen Wahlkreisbewerber und Landesliste kein Ausgleichszusammenhang hergestellt werden kann, ist eine besondere Berücksichtigung dieser Konstellation zwingend. Die Möglichkeit, unabhängige Wahlkreisbewerber vorzuschlagen, sichert das Wahlvorschlagsrecht aller Wahlberechtigten unabhängig von politischen Parteien als Kernstück des Bürgerrechts auf aktive Teilnahme an der Wahl.

Darüber hinaus führt das Zweitstimmendeckungsverfahren nicht zur Ungleichbehandlung von Wahlstimmen. Alle Wahlstimmen haben den gleichen Zählwert. Soweit Wählerinnen und Wähler mit ihrer Erststimme einen Wahlkreisbewerber einer Partei wählen, wird diese Stimme bei der Auszählung als eine Stimme für diesen Wahlkreisbewerber ausgewiesen.

Auch die Erfolgschancen der Erststimmen sind gleich. Jede Erststimme führt dann zu einem Mandat für den Wahlkreisbewerber, wenn zum einen der Bewerber die meisten Erststimmen im Wahlkreis und zum anderen die Landesliste seiner Partei so viele Zweitstimmen erhält, dass ihr Sitzkontingent für alle ihre erfolgreichen Wahlkreisbewerber mit dem gleichen oder besseren Erststimmenanteil ausreicht. Beide Bedingungen sind ausschließlich vom Wahlergebnis abhängig.

Auch die Stimmen für einen erfolgreichen Wahlkreisbewerber, der ein Mandat im Zweitstimmendeckungsverfahren erhält, und die Stimmen für einen erfolgreichen Bewerber in einem anderen Wahlkreis, der kein Mandat erhält, werden nicht ungleich behandelt. Die Nichtzuteilung des Mandats an den erfolgreichen Bewerber ohne Zweitstimmendeckung ist das Ergebnis des vom Gesetzgeber gewählten Zuteilungsmechanismus, der von zwei Voraussetzungen abhängig ist (Erlangung der meisten Erststimmen im Wahlkreis und Zweitstimmendeckung durch die Landesliste). Der Erfolgswert der Wahlstimmen bestimmt sich entsprechend nach diesen beiden Voraussetzungen.

Das Gebot der Unmittelbarkeit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG wird durch das Zweitstimmendeckungsverfahren ebenfalls nicht verletzt. Dieses ändert nichts daran, dass die Erststimme jeder Wählerin und jedes Wählers einem bestimmten Wahlkreisbewerber zugerechnet werden kann. Bei der Stimmabgabe ungewiss ist allein der Stimmerfolg. Er richtet sich ausschließlich nach dem – einheitlichen – Wahlvorgang und dem daran anschließenden gesetzlich vorgesehenen Sitzzuteilungsverfahren. Die Entscheidung, in welcher Reihenfolge erfolgreiche Wahlkreisbewerber ein Mandat oder bei fehlender Zweitstimmendeckung kein Mandat erhalten, ist damit allein durch das Wahlergebnis und das Wahlgesetz festgelegt.

Das Zweitstimmendeckungsverfahren verstößt nicht gegen die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG). Die Einschätzung, es belaste die Oppositionsparteien in besonderer Weise, teilt der Senat nicht. Das Zweitstimmendeckungsverfahren dient der Zusammensetzung des Bundestages nach Parteienproporz ebenso wie das bislang geltende System der Ausgleichsmandate. Anders als der Begriff der „Kappung“ suggeriert, wird Parteien durch das Zweitstimmendeckungsverfahren kein ihnen bereits zugeteiltes Sitzkontingent gekürzt. Die damit erreichte Einhaltung der gesetzlichen Größe des Bundestages führt lediglich dazu, dass im kommenden Deutschen Bundestag von jeder Partei – bei unterstellt gleichbleibenden Wahlergebnissen – weniger Abgeordnete vertreten sein werden, als dies nach dem bisherigen Wahlrecht der Fall gewesen wäre.

Die Sperrklausel des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ist in ihrer geltenden Form mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

Durch sie werden Parteien, die nach ihrem Zweitstimmenergebnis rechnerisch Bundestagssitze erhalten könnten, bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt, wenn sie im Bundesgebiet weniger als 5 % der gültigen Zweitstimmen erreicht haben. Dies ist eine Ungleichbehandlung gegenüber Wahlstimmen für Parteien mit einem höheren Zweitstimmenergebnis.

Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht kann die Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments einen legitimen Rechtfertigungsgrund darstellen. Maßgeblich für die Beurteilung einer Sperrklausel bei der Wahl zum Deutschen Bundestag sind die ihm in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zugewiesenen zentralen Funktionen.

Die Sperrklausel ist geeignet, die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Mit einer Sperrklausel verhindert das Wahlrecht eine Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen und sichert damit die Funktions- und Arbeitsbedingungen des Bundestages. Sie schafft die Voraussetzungen dafür, dass Zusammenschlüsse von Abgeordneten mit gleichgerichteten politischen Zielen im Bundestag (Fraktionen) grundsätzlich eine bestimmte Mindestgröße haben. Die Höhe der Sperrklausel von 5 % der bundesweiten gültigen Zweitstimmen ist für diesen Zweck sachgerecht. Die in ständiger Rechtsprechung bestätigte Beurteilung hat auch angesichts der zwischenzeitlich eingetretenen rechtlichen und tatsächlichen Änderungen Bestand.

Unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen ist die Ausgestaltung der Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG jedoch nicht in vollem Umfang erforderlich. Zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages ist es nicht notwendig, eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden.

Tatsächlich besteht die Möglichkeit, dass die CSU bei der nächsten Bundestagswahl mangels Überschreitens der bundesweiten 5 %-Sperrklausel bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt wird. Im Fall ihrer Berücksichtigung würden ihre Abgeordneten jedoch hinreichend sicher eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten der CDU bilden. Grundlage hierfür ist eine auf Dauer angelegte Kooperation der beiden Parteien.

Die Kooperation der CSU mit der CDU zeichnet sich letztlich durch drei Elemente aus: erstens die Absicht, aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele eine Fraktion zu bilden, zweitens den Umstand, dass schon bisher eben eine solche gemeinsame Fraktion im Bundestag bestand, und drittens den Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden.

CDU und CSU machen seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland im Wahlkampf deutlich, dass sie gleichgerichtete Ziele verfolgen und eine gemeinsame Fraktion bilden wollen. Insbesondere wirbt die CSU regelmäßig für den Spitzenkandidaten oder die Spitzenkandidatin der CDU. Seit 1976 stellen beide Parteien ausdrücklich ein gemeinsames Wahlprogramm für Bundestagswahlen auf. Seit 1949 bilden ihre Abgeordneten auch eine gemeinsame Fraktion im Bundestag. Während die CSU nur in Bayern zur Wahl antritt, verzichtet die CDU dort auf eine Vertretung.

Das Ziel der Sperrklausel wird in gleicher Weise erreicht, wenn die Zweitstimmenergebnisse von Parteien, die in dieser Form kooperieren, gemeinsam berücksichtigt werden. Darin liegende Ungleichbehandlungen sind gerechtfertigt.

Eine solche Kooperation verändert die Rahmenbedingungen der parlamentarischen Arbeit, auf deren Sicherung die Sperrklausel abzielt, nicht. Ihr Ziel ist eine Fraktionsgemeinschaft. Damit geht sie über ein reines Wahlbündnis hinaus, das lediglich erreichen will, dass beide Parteien im Parlament vertreten sind. Auch bezieht sie sich im Unterschied zu einer Koalitionsaussage nicht lediglich auf eine Zusammenarbeit im Fall der Regierungsübernahme, sondern gilt auch für den Fall der Opposition. Die Kooperation betrifft also unmittelbar die Tätigkeit im Bundestag selbst und umfasst sämtliche Parlamentsfunktionen. Durch die Bildung einer gemeinsamen Fraktion ordnen sich die Abgeordneten der beteiligten Parteien den parlamentarischen Organisationsstrukturen unter, indem sie nicht einzeln, sondern nur gemeinsam die Rechte und Pflichten einer Fraktion wahrnehmen. Dies bezweckt, gemeinsam eine politische Strömung im Parlament zu repräsentieren.

Werden Parteien, die in dieser Form kooperieren, bei der Anwendung der Sperrklausel gemeinsam berücksichtigt, stellt dies eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Parteien dar. Sie erhalten – anders als andere Parteien – auch dann Bundestagsmandate, wenn jede Partei für sich die Voraussetzung des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG nicht erfüllt.

Es kann offen bleiben, inwieweit die gemeinsame Berücksichtigung von Parteien bei der Überwindung der Sperrklausel gerechtfertigt ist, wenn lediglich einzelne der drei Voraussetzungen vorliegen. Jedenfalls gemeinsam rechtfertigen sie unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen die Bevorzugung einer Kooperation, wie sie CSU und CDU praktizieren.

Der Gesetzgeber ist zwar verpflichtet, die Sperrklausel so auszugestalten, dass sie unter den derzeitigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen nicht über das zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundestages Erforderliche hinausgeht. Er ist aber nicht auf die Einführung einer Möglichkeit der gemeinsamen Berücksichtigung zweier, in der dargestellten Form kooperierender Parteien beschränkt. Vielmehr kann er die Sperrklausel auch in anderer Weise modifizieren.

Die Verfassungsbeschwerden sind – soweit sie zulässig sind – begründet. § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verletzt das Recht der Beschwerdeführenden aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG.

Der Organklageantrag der CSU ist begründet. Der Beschluss des Bundestages am 17. März 2023, mit dem er das Gesetz zur Änderung des BWahlG angenommen hat, verletzt sie in ihrem Recht auf Chancengleichheit. Die Bedingungen, unter denen die Sperrklausel über das zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments Erforderliche hinausgeht, treffen auf sie zu.

Der Organklageantrag der Partei DIE LINKE ist unbegründet. Sie wird durch den festgestellten Verfassungsverstoß nicht in ihren eigenen Rechten verletzt. Ihre Abgeordneten bilden keine gemeinsame Fraktion mit denen einer anderen Partei. Es ist auch nicht erkennbar, dass sie eine solche beabsichtigt.

Die Maßgabe zur Fortgeltung der Sperrklausel unter Rückgriff auf die Wahlkreisklausel des Gesetzentwurfs ist den Parteien sowie den Wählerinnen und Wählern bekannt und stärkt überdies das Vertrauen darauf, dass die Wahlrechtsreform keine Partei benachteiligt.