Corona-Pandemie: Versammlung kann nicht pauschal abgelehnt werden

19. April 2020 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 17. April 2020 zum Aktenzeichen 1 BvQ 37/20 entschieden, dass eine die Ablehnung einer Versammlung während der Corona-Pandemie verfassungswidrig ist.

Der Antragsteller wendet sich mit einem isolierten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen Eilentscheidungen des Verwaltungsgerichts Stuttgart und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg betreffend die Zulässigkeit einer Versammlung.

Der Antragsteller meldete am 10. April 2020 bei der Stadt Stuttgart, der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens, für den 15. und den 18. April 2020 jeweils eine Versammlung unter dem Motto „Wir bestehen auf die ersten 20 Artikel der Verfassung. Wir bestehen auf Beendigung des Notstands-Regimes“ an. Die Versammlungen sollten jeweils von 15.30 Uhr bis ca. 17.30 Uhr auf dem Schlossplatz in Stuttgart stattfinden. Die erwartete Teilnehmerzahl in der Spitze wurde mit je-weils 50 angegeben. Zum Ablauf wurde ausgeführt, die Versammlung werde „als Spaziergang mit Schildern durchgeführt“; alle Teilnehmer würden „vorab über die notwendigen Hygieneregeln informiert (insbesondere Abstand von 2 m)“.

Der Antragsteller trägt vor, ihm sei – anlässlich einer früheren Versammlungsanmeldung – am 8. April 2020 von einem Mitarbeiter der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens telefonisch mitgeteilt worden, dass dort aktuell über Versammlungen nicht entschieden werde, weil diese verboten seien. Der Bevollmächtigte des Antragstellers teilt mit, er habe daraufhin ebenfalls bei diesem Mitarbeiter angerufen und um Übersendung eines ablehnenden Bescheids gebeten. Der Mitarbeiter habe daraufhin erklärt, ein Ablehnungsbescheid werde nicht ergehen, weil sich das Verbot von Versammlungen aus der Corona-Verordnung der Landesregierung ergebe.

Der Antragsteller beantragte am 14. April 2020 bei dem Verwaltungsgericht Stuttgart, die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, die angemeldeten Versammlungen zu genehmigen. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag durch Beschluss vom 14. April 2020 ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragstellers wies der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg durch Beschluss vom 15. April 2020 zurück.

Zur Begründung führte der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen aus, als Rechtsgrundlage des Antragsbegehrens in Betracht komme allein die in § 3 Abs. 6 CoronaVO vorgesehene Ermächtigung zur Zulassung von Ausnahmen von dem Verbot nach § 3 Abs. 1 CoronaVO, das auch für Versammlungen gelte. Ausgehend davon habe der Antragsteller einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Zwar sei bei verfassungskonformer Auslegung von § 3 Abs. 6 CoronaVO die Absicht des Antragstellers, seine grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit wahrzunehmen, als „wichtiger Grund“ im Sinne der Vorschrift anzusehen. Der Antragsteller habe jedoch nicht glaubhaft gemacht, dass das der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens durch § 3 Abs. 6 CoronaVO eröffnete Ermessen dahingehend reduziert sei, dass sie verpflichtet sei, eine Ausnahme zuzulassen. Insbesondere stelle sich die Versagung der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nicht als unverhältnismäßig dar. Unerheblich sei in diesem Zusammenhang, dass die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens ihr Ermessen im vorliegenden Fall, wie der Antragsteller rüge und die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens bestreite, möglicherweise noch gar nicht ausgeübt habe. Denn der Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens zur Erteilung einer Ausnahmezulassung verpflichtet würde, käme nur in Betracht, wenn dargelegt oder sonst ersichtlich wäre, dass ihr Ermessen auf Null reduziert wäre oder hier Raum für eine anderweitige rechtsfehlerfreie Ermessensausübung verbliebe, was indes nicht der Fall sei. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens habe es im Ergebnis abgelehnt, dem Antragsteller die Durchführung der beabsichtigten Versammlungen zu ermöglichen. Damit verfolge sie den legitimen Zweck, im Interesse des Schutzes von Leib und Leben von Menschen das derzeit hohe Infektionsrisiko in Bezug auf das Virus SARS-CoV-2 zu reduzieren. Die Versagung einer Ausnahmegenehmigung sei hierzu geeignet und auch erforderlich. Die von dem Antragsteller in den Vordergrund gerückte Möglichkeit, dass die erwarteten 50 Teilnehmer jeweils einen Abstand von 1,50 m zueinander einhalten, vermöge die Ansteckungsrisiken ersichtlich nicht in gleichem Maße wie ein vollständiger Verzicht auf die Zusammenkunft zu vermeiden, weil bei einer Versammlung Restrisiken – die angesichts des potenziell tödlichen Verlaufs der Krankheit von erheblichem Gewicht seien – verblieben. Im vorliegenden Einzelfall komme hinzu, dass der Antragsteller keinerlei eigene Überlegungen zur weiteren Minimierung der genannten Risiken wie etwa eine Bereitstellung von Schutzmasken oder eine Hinzuziehung von Ordnern angestellt habe. Weiter komme hinzu, dass bei lebensnaher Betrachtung nicht auszuschließen sei, dass bei Durchführung der Versammlung weitere Personen in unmittelbarer Nähe stehenblieben und dadurch zusätzliche Infektionsrisiken geschaffen würden. Jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt stelle sich die Versagung der Ausnahmegenehmigung auch trotz des darin liegenden außerordentlich schwerwiegenden Eingriffs in das Grundrecht aus Art. 8 GG noch als verhältnismäßig im engeren Sinne dar. Mit der Versagung der Ausnahmegenehmigung verfolge die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens in der gegenwärtigen Pandemie in Kenntnis des Umstands, dass es derzeit noch keine Impfstoffe oder sicher wirkende Medikamente gegen die Krankheit gebe, mit dem Schutz von Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen gewichtige Ziele. Dabei sei zu berücksichtigen, dass ihre Vorgehensweise auf eine Verordnung gestützt sei, deren zeitliche Geltung begrenzt sei (vgl. § 11 CoronaVO), deren Rechtfertigung der Verordnungsgeber zudem von Verfassungs wegen unter ständiger engmaschiger Kontrolle zu halten habe und mit der derzeitigen Staatspraxis auch erkennbar halte. Bei diesem Sachstand und den vom Verordnungsgeber im Blick gehaltenen Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts, das ausgehend von dem derzeitigen virologischen Erkenntnisstand nach wie vor dringend dazu rate, sich im öffentlichen Raum maximal mit einer weiteren Person aufzuhalten und Menschenansammlungen gänzlich zu meiden, erweise sich die Versagung einer Ausnahmegenehmigung für die Durchführung von zwei Versammlungen unter freiem Himmel mit jeweils 50 Personen gegenwärtig nicht als unverhältnismäßig.

Der Antragsteller hat am 16. April 2020 beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.

Das Vorgehen der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens wird Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG nicht gerecht.

Es ist schon nicht erkennbar, dass die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens von dem ihr in § 3 Abs. 6 CoronaVO eingeräumten Ermessen im Lichte von Art. 8 GG Gebrauch gemacht hat.

Der Antragsteller trägt vor, ihm sei – anlässlich einer früheren Versammlungsanmeldung – am 8. April 2020 von einem Mitarbeiter der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens telefonisch mitgeteilt worden, dass dort aktuell über Versammlungen nicht entschieden werde, weil diese verboten seien. Der Bevollmächtigte des Antragstellers teilt mit, er habe daraufhin ebenfalls bei diesem Mitarbeiter angerufen und um Übersendung eines ablehnenden Bescheids gebeten. Der Mitarbeiter habe daraufhin erklärt, ein Ablehnungsbescheid werde nicht ergehen, weil sich das Verbot von Versammlungen aus der Corona-Verordnung der Landesregierung ergebe.

In ihrer im verfassungsgerichtlichen Verfahren abgegebenen Stellungnahme verweist die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens zwar darauf, dem Antragsteller die aus ihrer Sicht nicht bestehende Möglichkeit effektiver Schutzauflagen telefonisch mitgeteilt und mit ihm erörtert zu haben. Dass sie den von dem Antragsteller erbetenen rechtsmittelfähigen Bescheid unstrittig nicht erlassen hat, spricht indessen dafür, dass sie angesichts ihrer Auslegung der Verordnung keinen Handlungsspielraum gesehen hat, sondern von einem Verbot ausging.

Soweit die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens in ihrer Stellungnahme Erwägungen zu einer Zulassung der Versammlung unter Auflagen zum Schutz vor Infektionen anstellt und diese als ungeeignet oder unzureichend verwirft, ist dies insoweit schon deshalb unerheblich, weil sich ein Ermessensausfall hierdurch nicht heilen ließe. Unabhängig davon erweisen sich die von ihr angestellten Erwägungen im Lichte von Art. 8 GG als nicht tragfähig. Dabei muss im verfassungsgerichtlichen Eilverfahren offenbleiben, ob es von Art. 8 GG gedeckt ist, die Ausübung der Versammlungsfreiheit durch Rechtsverordnung einem grundsätzlichen Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu unterwerfen und die Erteilung einer solchen Erlaubnis in das Ermessen der Verwaltung zu stellen. Jedenfalls muss, wenn eine derartige Regelung getroffen wird, wie sie § 3 Abs. 1 und 6 CoronaVO in der in den Stellungnahmen des Landes Baden-Württemberg und der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens wie auch in der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vertretenen Auslegung enthält, im Rahmen der Ermessensausübung dem Grundrecht aus Art. 8 GG Rechnung getragen werden. Dies erfordert insbesondere eine hinreichende Berücksichtigung der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls. Lediglich pauschale Erwägungen, die jeder Versammlung entgegengehalten werden könnten, würden dem durch den Normgeber eröffneten Entscheidungsspielraum, von dem die Verwaltung unter Berücksichtigung des Individualgrundrechts aus Art. 8 GG Gebrauch zu machen hat, nicht gerecht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 15. April 2020 – 1 BvR 828/20 -, Rn. 14). Dem werden die weithin vom Einzelfall gelösten Erwägungen, welche die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens in ihrer Stellungnahme im verfassungsgerichtlichen Verfahren anstellt, nicht gerecht. Sie macht überwiegend Bedenken geltend, die jeder Versammlung entgegengehalten werden müssten.

Dass sich der Zweck der Verhinderung der weiteren Ausbreitung einer Virus-Erkrankung durch Nichtzulassung der Versammlung erreichen lässt, ließe sich letztlich gegen jede Versammlung unabhängig von der Teilnehmerzahl anführen. Damit liefe der Zulassungsvorbehalt gemäß § 3 Abs. 6 CoronaVO weitgehend leer, soweit er – auch aus Sicht der baden-württembergischen Landesregierung, der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens und des Verwaltungsgerichtshofs – der Sicherung des Grundrechts aus Art. 8 GG dient.

Zudem hat die Behörde keinerlei eigene Überlegungen zur weiteren Minimierung von Infektionsrisiken angestellt. Die Verantwortung dafür trifft nicht allein den Antragsteller. Vor dem Erlass einer Beschränkung der Versammlungsfreiheit muss sich die zuständige Behörde zunächst um eine kooperative, einvernehmliche Lösung mit dem Versammlungsveranstalter bemühen. Dies entspricht für Auflagen und Verbote ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. grundlegend BVerfGE 69, 315 <355 ff., 362>). Nichts Anderes gilt für die Verweigerung einer Zulassung, wenn – wie hier nach Auffassung der baden-württembergischen Landesregierung, der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens und des Verwaltungsgerichtshofs, deren Verfassungskonformität hier offen bleiben muss – die Ausübung der Versammlungsfreiheit einem Verbot mit Zulassungsvorbehalt unterworfen ist. Es wäre danach Sache der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens gewesen, gemeinsam mit dem Antragsteller, der sich dem nicht entgegenstellt, mögliche Auflagen zum Infektionsschutz, von denen § 3 Abs. 6 CoronaVO die Erteilung einer Zulassung abhängig macht, zu eruieren.

Stattdessen stellt die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens in ihrer Stellungnahme pauschal fest, auch nach Beratung mit dem städtischen Gesundheitsamt und unter Hinzuziehung der Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts sei es ihr nicht möglich, Auflagen festzusetzen, die der aktuellen Pandemielage gerecht würden. Damit schließt sie jede Einzelfallbetrachtung von vornherein aus. Insbesondere fasst sie die angemeldete Teilnehmerzahl von 50 Personen, den geplanten Versammlungsort am Schlossplatz sowie den Termin am 18. April 2020 von 15.30 bis ca. 17.30 Uhr unzutreffend als zwingende Vorgaben auf, ohne dabei in Betracht zu ziehen, ob sich nötigenfalls durch Verringerung der Teilnehmerzahl und/oder eine örtliche oder zeitliche Verlagerung der Versammlung gegebenenfalls in Verbindung mit weiteren Schutzmaßnahmen das Infektionsrisiko auf ein in Abwägung mit dem Grundrecht aus Art. 8 GG vertretbares Maß reduzieren lässt.

Die Kammer verkennt dabei nicht, dass, wie die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens vorbringt, gerade in Stuttgart die Infektionszahlen in den vergangenen Wochen stark angestiegen sind. Dies befreit die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens aber nicht davon, vor einer Versagung der Zulassung der Versammlung möglichst in kooperativer Abstimmung mit dem Antragsteller alle in Betracht kommenden Schutzmaßnahmen in Betracht zu ziehen und sich in dieser Weise um eine Lösung zu bemühen, die die Herstellung praktischer Konkordanz zwischen dem Ziel des Infektionsschutzes und des Schutzes von Leib und Leben auf der einen und der Versammlungsfreiheit auf der anderen Seite ermöglicht.