Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 23. September 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 1144/21 entschieden, dass die Vertretungsberechtigten eines Bürgerbegehrens kein Rechtsschutzbedürfnis zur Verfassungsbeschwerde haben.
Die Beschwerdeführer, Vertretungsberechtigte zweier kommunaler Bürgerbegehren im Sinne von § 16g Abs. 3 Satz 3 Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein (GO SH), wenden sich gegen die Versagung von Rechtsschutz im Abstimmungsprüfungsverfahren nach Durchführung der Bürgerentscheide.
Den Bürgerbegehren liegen die Planungen der schleswig-holsteinischen Gemeinde (…) über die Nutzung der gemeindlichen Flächen „(01)“ und „(02)“ zugrunde. Am 15. Juni 2020 reichten die Beschwerdeführer als Vertretungsberechtigte der Bürgerbegehren diese samt Antragslisten bei dem Amt (…) und dem Landrat des Kreises (…) als Kommunalaufsichtsbehörde ein. Am 18. Juni 2020 beschloss die Vertretung der Gemeinde (…), eigene Bürgerentscheide in diesen Angelegenheiten durchzuführen, um die Gelände einer anderweitigen Nutzung zuzuführen. Mit Schreiben vom 13. Juli 2020 erklärte der Landrat des Kreises (…) die beiden von den Beschwerdeführern initiierten Bürgerbegehren für zulässig.
Am 27. September 2020 fand die Abstimmung über die insgesamt vier Bürgerentscheide statt. Die Bürgerentscheide 1 und 3 entsprachen jeweils den Bürgerbegehren, die Bürgerentscheide 2 und 4 den Begehren der Gemeindevertretung. Zudem war auf den Stimmzetteln jeweils eine Stichfrage für den Fall nicht miteinander zu vereinbarender Abstimmungsergebnisse enthalten. Der Bürgerentscheid 1 erhielt wie der Bürgerentscheid 2 eine Mehrheit, die zugehörige Stichfrage ging zugunsten des Bürgerentscheids 2 aus. Der Bürgerentscheid 3 fand keine Zustimmung, der Bürgerentscheid 4 erhielt eine Mehrheit.
Mit Schriftsatz vom 3. November 2020 legten die Beschwerdeführer Einspruch gegen die Gültigkeit der Abstimmung zu den Bürgerentscheiden ein, den die Gemeinde (…) als unbegründet zurückwies. Hiergegen erhoben die Beschwerdeführer Klage, die beim Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht anhängig ist. Die Beschwerdeführer beantragten darüber hinaus in verschiedenen Stadien der Abstimmungsprüfung einstweiligen Rechtsschutz.
Nach Abschluss der kommunalen Abstimmungsprüfung beantragten die Beschwerdeführer erneut die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, die das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 29. Januar 2021 ablehnte. Die hiergegen gerichtete Beschwerde vom 8. Februar 2021 wies das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 7. Juni 2021 zurück.
Die Beschwerdeführer machen eine Verletzung ihrer Rechte als Vertretungsberechtigte des Bürgerbegehrens, als abstimmungsberechtigte Bürger und als Beteiligte im Abstimmungsprüfungsverfahren geltend; sie sehen sich durch die Versagung der begehrten einstweiligen Anordnung in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
Nach § 7 und § 16g Abs. 3 Satz 5 GO SH stünden die Vertretungsberechtigten des Bürgerbegehrens nicht in einer Art organschaftlichem, sondern in einem Außenrechtsverhältnis zur Gemeinde, sodass sie sich auf Art. 19 Abs. 4 GG berufen könnten. Zudem stünden ihnen nach der Schleswig-Holsteinischen Gemeindeordnung subjektive Rechte als abstimmungsberechtigte Bürger zu. Dies gelte nach § 16g Abs. 3 Satz 1 GO SH sowohl für ein für zulässig erklärtes, noch nicht durchgeführtes Bürgerbegehren als auch nach § 16a Abs. 8 Satz 2 GO SH für einen erfolgreichen Bürgerentscheid. Schließlich stünden ihnen auch subjektive Rechte als Beteiligte im Abstimmungsprüfungsverfahren nach § 38 Abs. 1, § 40 Abs. 1 Gemeinde- und Kreiswahlgesetz Schleswig-Holstein (GKWG SH) zu.
Das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht habe die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verletzt, indem es den Beschwerdeführern als Vertretungsberechtigten des Bürgerbegehrens eine Stellung als Organ der Gemeinde zugewiesen und eine Berufung auf Art. 19 Abs. 4 GG damit verwehrt habe. Zudem verneine es zu Unrecht die – an Art. 41 GG angelehnte – Doppelfunktion des Abstimmungsprüfungsverfahrens, das auch dem Schutz des subjektiven aktiven und passiven Wahlrechts diene. Gleiches gelte, soweit es den Beschwerdeführern als abstimmungsberechtigten Bürgern ein subjektives Recht auf ordnungsgemäße Durchführung des Bürgerbegehrens abspreche. Schließlich prüfe das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht in Verkennung des Art. 19 Abs. 4 GG die Voraussetzungen für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO nicht hinreichend.
Soweit die Beschwerdeführer als Vertretungsberechtigte der streitgegenständlichen Bürgerbegehren sich gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts wenden, kommt eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG nicht in Betracht, weil sie in einer Art organschaftlichem Verhältnis zur betreffenden Gemeinde stehen und insoweit auch deren „Amtswalter“ sind.
Art. 19 Abs. 4 GG garantiert dem Einzelnen bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt effektiven Rechtsschutz als Grundrecht und damit einen Anspruch auf eine auch tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle, ohne den gerichtlichen Kontrollauftrag zu verabsolutieren.
Als Grundrecht findet Art. 19 Abs. 4 GG auf Gebietskörperschaften und deren Organe jedoch grundsätzlich keine Anwendung.
Zwar gelten die Grundrechte nach Art. 19 Abs. 3 GG auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Dies gilt jedoch grundsätzlich nicht für inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts, weil es mit dem Wesen der Grundrechte nicht vereinbar wäre, wenn der Staat über Art. 19 Abs. 3 GG selbst zum Teilhaber oder Nutznießer der Grundrechte würde. Sein Handeln dient der Erfüllung öffentlicher Aufgaben und vollzieht sich nicht in Wahrnehmung unabgeleiteter ursprünglicher Freiheit, sondern aufgrund von Kompetenzen, die vom positiven Recht zugeordnet und inhaltlich bemessen und begrenzt werden. Kompetenzzuweisungen und die Entscheidung aus ihnen resultierender Konflikte sind nicht Gegenstand der Grundrechte. Sie fallen daher auch nicht in den Schutzbereich der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG.
Das gilt auch für Gemeinden und ihre Organe. Sie sind lediglich besondere Erscheinungsformen einer einheitlich verstandenen Staatsgewalt. Soweit sie eine Verletzung ihnen zugewiesener Rechte geltend machen, handelt es sich um Streitigkeiten über die funktionale Zuständigkeitsordnung, denen es an dem notwendigen Bezug zur individuellen – in der Regel grundrechtlich radizierten – Selbstbestimmung fehlt.
Das gilt auch für die Vertretungsberechtigten eines Bürgerbegehrens. Die ihnen durch das jeweilige Kommunalrecht zugewiesenen Rechte sind Teil des kommunalen Organisationsrechts. Sie betreffen die politische Willensbildung in der Gemeinde und begrenzen zugleich die Rechte der Gemeindevertretung. Ein zugelassenes Bürgerbegehren ist Teil des institutionellen Gefüges der Gemeinde, mit dem die Bürgerschaft an der politischen Willensbildung in der Gemeinde teilhat. Seine Vertretungsberechtigten nehmen insoweit eine organschaftliche Funktion wahr. Als – wenn auch nur temporäres und in seiner funktionalen Zuständigkeit begrenztes – „Organ“ der Gemeinde fallen sie nicht in den Schutzbereich von Art. 19 Abs. 4 GG. Insoweit handelt es sich um eine kommunalverfassungsrechtliche Streitigkeit.
Soweit die Beschwerdeführer (auch) eine Beeinträchtigung der ihnen als natürliche Personen oder als Beteiligte des Abstimmungsprüfungsverfahrens zustehenden Rechte geltend machen, kommt eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG nicht in Betracht, weil ihnen das schleswig-holsteinische Kommunalrecht keine subjektiven öffentlichen Rechte einräumt, die im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes geltend gemacht werden könnten.
Soweit sich aus dem Grundgesetz oder Vorgaben des Unionsrechts nichts anderes ergibt, befindet der Gesetzgeber darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen er dem Einzelnen ein subjektives öffentliches Recht zuweist und welchen Inhalt dieses haben soll. Existenz und Umfang eines subjektiven öffentlichen Rechts sind daher grundsätzlich Fragen der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, dessen Auslegung zuvörderst den Fachgerichten obliegt. Das Bundesverfassungsgericht überprüft Entscheidungen der Fachgerichte lediglich daraufhin, ob sie bei der Auslegung des einfachen Rechts Bedeutung und Tragweite der berührten Grundrechte verkannt oder die Grenzen des Willkürverbots überschritten haben.
Das ist hier nicht der Fall. Das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht ist in seinem Beschluss vom 7. Juni 2021 aufgrund einer umfassenden und detaillierten Auslegung zu dem Ergebnis gelangt, dass § 40 Abs. 1 in Verbindung mit § 54 Nr. 1 und Nr. 2 GKWG SH, der wegen § 10 Abs. 3 Landesverordnung zur Durchführung der Gemeinde-, der Kreis- und der Amtsordnung Schleswig-Holstein (GKAVO SH) entsprechend auch für die Durchführung von Bürgerentscheiden gelte, die Klagemöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger insoweit speziell und abschließend regele und dass es ihnen danach an der Antragsbefugnis für eine einstweilige Anordnung fehle. Nach Durchführung eines Bürgerentscheids bestehe regelmäßig kein Bedürfnis für ein Fortwirken des Suspensiveffekts (vgl. § 16g Abs. 5 Satz 2 GO SH) beziehungsweise für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes. Wie bei der Wahlprüfung gehe es auch bei der gerichtlichen Überprüfung der Durchführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden nicht um die Geltendmachung subjektiver Rechte der Bürgerinnen und Bürger; die ordnungsgemäße Durchführung eines Bürgerentscheids sei vielmehr im öffentlichen Interesse gewährleistet und müsse notfalls im Wege der Kommunalaufsicht durchgesetzt werden (vgl. § 16g Abs. 8 Satz 1 i.V.m. §§ 120 ff. GO SH). Bürgerentscheide stünden als Instrumente unmittelbarer Demokratie neben den repräsentativen Entscheidungsformen der Gemeinde. Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger erschöpften sich vor diesem Hintergrund in der unmittelbaren Mitwirkung und Abstimmung. Auf das Sicherungsrecht des § 16g Abs. 8 Satz 2 GO SH könnten sie sich vorliegend nicht mehr berufen, da die von den Bürgerinnen und Bürgern initiierten Bürgerentscheide 1 und 3 erfolglos geblieben seien.
Diese Erwägungen hielten sich auch innerhalb der verfassungsgerichtlichen Maßstäbe, die zu Art. 41 GG und nachfolgend zu Abstimmungsverfahren im Rahmen von Volksentscheiden beziehungsweise Volksbegehren entwickelt worden seien. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts könnten unmittelbar sich auf das Wahlverfahren beziehende Entscheidungen und Maßnahmen nur mit den in den Wahlvorschriften vorgesehenen Rechtsbefehlen und im Wahlprüfungsverfahren angefochten werden. Sei Rechtsschutz im Wahlverfahren nach der gesetzlichen Konzeption erst nach der Durchführung der Wahl zu erlangen, schließe dies auch eine in das einstweilige Anordnungsverfahren vorverlegte Wahlprüfungsbeschwerde aus, die sich gegen Entscheidungen und Maßnahmen im Wahlverfahren richte. Bei Volksbegehren und Volksentscheid sei darüber hinaus die Gesamtheit der Abstimmungsvorgänge Prüfungsgegenstand und entscheidend, ob bei dem Volksentscheid das objektive Recht eingehalten worden sei oder im Falle seiner Verletzung nicht ausgeschlossen werden könne, dass es ohne die „Wahlfehler“ zu einem (anderen) Abstimmungsergebnis gekommen wäre. Sei das nicht der Fall, könne es nach Durchführung des Volksentscheids keine derart unzumutbaren Nachteile geben, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung dringend geboten erscheinen ließen.
In der Verwaltungsgerichtsordnung gebe es ferner keine dem § 32 BVerfGG vergleichbare Regelung, sondern nur die dem subjektiven Rechtsschutz dienenden Regelungen der § 123, § 80 Abs. 5 und § 47 Abs. 6 VwGO. Auch existiere keine Vorschrift, nach der einstweiliger Rechtsschutz im Wahlprüfungsverfahren vorgesehen wäre. Da es vorliegend nicht um die Gewährung subjektiven Rechtsschutzes, sondern um eine objektive Rechtsprüfung gehe, sei es auch vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu beanstanden, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber Schleswig-Holsteins neben der Klagemöglichkeit in § 40 GKWG SH beziehungsweise § 10 Abs. 3 GKAVO SH nicht auch die Möglichkeit einstweiligen Rechtsschutzes vorgesehen habe. Zudem sei es den Beschwerdeführern zumutbar, das Ergebnis einer Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem beabsichtigten Vollzug der den Bürgerentscheiden 1 und 3 widersprechenden Bürgerentscheide 2 und 4.
Das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht hat somit ausführlich und nachvollziehbar dargelegt, dass und aus welchen Gründen § 40 Abs. 1 in Verbindung mit § 54 Nr. 1 und Nr. 2 GKWG SH und § 10 Abs. 3 GKAVO SH seiner Ansicht nach subjektive öffentliche Rechte einzelner Bürgerinnen und Bürger beziehungsweise von am Abstimmungsprüfungsverfahren Beteiligten ausschließen. Es hat dabei Art. 19 Abs. 4 GG ausführlich behandelt. Dass seine Auslegung willkürlich wäre, ist nicht ersichtlich.