Das Verwaltungsgericht Neustadt (Weinstraße) hat mit Urteil vom 22.04.2021 zum Aktenzeichen 5 K 274/21.NW entschieden, dass dann, wenn Bürger Widerspruch gegen den Verwaltungsakt einer kommunalen Behörde eingelegt haben und sie nicht auf eine mündliche Erörterung ihres Widerspruchs vor dem Rechtsausschuss verzichten, ist dieser nicht berechtigt, im Hinblick auf die bestehende Corona-Pandemie über den Widerspruch ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
Aus der Pressemitteilung des VG Neustadt Nr. 15/2021 vom 06.05.2021 ergibt sich:
Der Landkreis Kusel (im Folgenden: Beklagter) erließ gegenüber der Klägerin im Oktober 2019 einen auf das Bundesbodenschutzgesetz gestützten belastenden Bescheid, gegen den die Klägerin Widerspruch einlegte. Der Kreisrechtausschuss des Beklagten fragte unter Bezugnahme auf die Covid-19 Pandemie und die damit indizierte Reduzierung privater und öffentlicher Kontakte zweimal bei der Klägerin an, ob sie auf eine mündliche Erörterung ihres Widerspruchs verzichte, was die Klägerin ausdrücklich verneinte. Daraufhin wies der Kreisrechtsausschuss des Beklagten ohne Mitteilung über das weitere Vorgehen und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 2021 u.a. mit der Begründung zurück, über den Widerspruch habe vor dem Hintergrund der durch das Coronavirus Sars-CoV-2 ausgelösten Atemwegserkrankung CoVid-19 und der rapiden Zunahme der Fallzahlen auch ohne mündliche Erörterung mit den Beteiligten entschieden werden können. Unter Berücksichtigung des aktuellen Infektionsgeschehens im Landkreis Kusel, wonach die 7-Tage-lnzidenz größer als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner betrage, sei die Durchführung einer mündlichen Erörterung über den Widerspruch, bei der mindestens sechs Personen aus jeweils unterschiedlichen Haushalten anwesend wären, nicht vertretbar. Es sei erforderlich, direkte Begegnungen von Menschen vorübergehend auf ein Minimum zu reduzieren. Dem widerspreche es, den Widerspruch mit den Beteiligten mündlich zu erörtern. In der Sache sei der zulässige Widerspruch unbegründet.
Die Klägerin hat im März 2021 isoliert gegen den Widerspruchsbescheid Klage erhoben und die Auffassung vertreten, der Kreisrechtsausschuss sei aufgrund ihres fehlenden Verzichts auf eine mündliche Erörterung des Widerspruchs nicht berechtigt gewesen, im schriftlichen Verfahren zu entscheiden.
Die 5. Kammer des Gerichts hat der Klage mit folgender Begründung stattgegeben:
Nach § 16 des Landesgesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung (AGVwGO) habe der Rechtsausschuss vor Erlass des Widerspruchsbescheids den Widerspruch mit den Beteiligten mündlich zu erörtern. Die Verhandlung sei öffentlich; der Rechtsausschuss könne die Öffentlichkeit aus wichtigem Grund ausschließen. Mit Einverständnis aller Beteiligten könne von der mündlichen Erörterung abgesehen werden. Dieses Einverständnis habe die Klägerin jedoch nicht erteilt.
Soweit der Kreisrechtsausschuss des Beklagten sich in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf die Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz darauf berufen habe, über den Widerspruch habe er vor dem Hintergrund der durch das Coronavirus Sars-CoV-2 ausgelösten Atemwegserkrankung CoVid-19 ohne mündliche Erörterung mit den Beteiligten entscheiden können, könne dem nicht gefolgt werden. Aufgrund der Ausgestaltung des Verfahrens, insbesondere im Hinblick auf die prinzipielle Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung und den Öffentlichkeitsgrundsatz, handele es sich bei dem Widerspruchsverfahren vor den Rechtsausschüssen um ein gerichtsähnliches Verfahren. § 16 AGVwGO werde nicht durch die Bestimmungen des Infektionsschutzrechts verdrängt. Es sei daher Aufgabe des Beklagten, für die Durchführung von mündlichen Verhandlungen im Vorverfahren ein Hygienekonzept zu entwickeln, das mit der jeweiligen Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz in Einklang stehe. Denn trotz der momentanen Ausnahmesituation müsse der Beklagte das rechtsstaatliche Anliegen eines zügigen Verfahrensabschlusses im Blick haben und einen angemessenen Ausgleich zwischen Infektionsschutz und Anspruch auf effektiven Rechtsschutz herstellen. So könne der Beklagte den Sitzungssaal lüften, Trennscheiben aus Plexiglas zwischen den Beteiligten aufstellen und auf den erforderlichen Abstand zwischen den Personen sowie das Tragen einer medizinischen Maske oder einer Maske mit Standards KN95/N95 oder FFP 2 achten. Mit der Teilnahme vieler interessierter Zuschauer an einer Verhandlung sei regelmäßig nicht zu rechnen, seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie sogar unwahrscheinlich. Sollte ein zu verhandelnder Fall ausnahmsweise auf ein großes Interesse der Öffentlichkeit stoßen, stehe es dem Kreisrechtsausschuss zudem frei, an eine größere Sitzungsörtlichkeit auszuweichen. Ferner könne er die Öffentlichkeit aus wichtigem Grund, nämlich auch aus Gründen des Gesundheitsschutzes, ausschließen oder zugangsbeschränkende Maßnahmen ergreifen.
Unter diesen Voraussetzungen sei dem Kreisrechtsausschuss des Beklagten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht unzumutbar. Dass die aufgezählten Maßnahmen zur Verhinderung einer Ansteckung im Verwaltungsgebäude des Beklagten offensichtlich unzulänglich wären, eine mit einer Ansteckung einhergehende Gesundheitsgefährdung zu verhindern, sei nicht ersichtlich. Soweit der Kreisrechtsausschuss mit seiner Argumentation letztlich auf den Ausschluss eines jeden Risikos abziele, könne er damit verfassungsrechtlich nicht durchdringen.
Gegen das Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung Antrag auf Zulassung der Berufung zum Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz eingelegt werden.