Der Bundesgerichtshof hat am 15.12.2020 zum Aktenzeichen XI ZB 24/16 in einem Kapitalanleger-Musterverfahren über die Haftung der Deutschen Telekom AG aufgrund des anlässlich des sogenannten „dritten Börsenganges“ herausgegebenen Verkaufsprospektes entschieden.
Aus der Pressemitteilung des BGH Nr. 44/2021 vom 26.02.2021 ergibt sich:
Insoweit entschied der BGH über die Rechtsbeschwerden von Anlegern, die stellvertretend für rund 17.000 Kläger Rechtsmittel gegen den Musterentscheid des OLG Frankfurt vom 30.11.2016 eingelegt haben, sowie über die gegen den vorbezeichneten Musterentscheid gerichtete Rechtsbeschwerde der Deutschen Telekom AG.
Während die Ausführungen des Oberlandesgerichts zur Frage der Ursächlichkeit des fehlerhaften Prospekts für den Aktienerwerb und zum Verschulden der Musterbeklagten der rechtlichen Prüfung im Wesentlichen standhielten, ist die Sache zur Frage, ob der im Prospekt unrichtig dargestellte Sachverhalt auch zu einer Minderung des Börsenpreises beigetragen hat, unter teilweiser Aufhebung des Musterentscheids an das Oberlandesgericht zurückverwiesen worden. Hierzu wird das Oberlandesgericht nunmehr durch Einholung eines Sachverständigengutachtens am zutreffenden rechtlichen Maßstab ausgerichtete Feststellungen zu treffen haben.
Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf:
Das Kapitalanleger-Musterverfahren betrifft die Haftung der Deutschen Telekom AG aufgrund des anlässlich des sogenannten „dritten Börsenganges“ herausgegebenen Verkaufsprospektes. Im Jahr 2000 bot die Musterbeklagte auf Grundlage dieses Prospekts 230 Millionen bereits zum Börsenhandel zugelassener Stückaktien aus dem Bestand der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) öffentlich zum Verkauf an. Im Prospekt ist ausgeführt, dass die Musterbeklagte im Jahr 1999 auf Grund des konzerninternen Verkaufs ihrer Anteile an einem US-amerikanischen Telekommunikationsunternehmen einen Buchgewinn von 8,2 Mrd. € realisieren konnte. Tatsächlich hatte die Musterbeklagte die Aktien an diesem Telekommunikationsunternehmen jedoch nicht verkauft, sondern im Wege der Sacheinlage auf eine 100%ige Konzerntochter übertragen (sog. Umhängung). Infolge der Umhängung trug die Musterbeklagte weiter das volle Risiko des Kursverlustes der Aktien und ein damit verbundenes dividendenrelevantes Abschreibungsrisiko. Tatsächlich erlitten die Aktien ab Juli 2000 einen erheblichen Wertverlust. Auch der Kurs der Aktien der Musterbeklagten fiel bis Ende des Jahres 2000 deutlich ab. Im Einzelabschluss der Musterbeklagten zum 31. Dezember 2000 wurde eine Abschreibung des Beteiligungsbuchwerts der 100%igen Konzerntochter in Höhe von 6,653 Mrd € vorgenommen und ein negatives Ergebnis vor Steuern in Höhe von – 3,1 Mrd. € bekanntgegeben. Ab dem Jahr 2001 kam es zu zahlreichen Klagen gegen die Deutsche Telekom AG, die KfW, die Bundesrepublik Deutschland und einen Teil der Konsortialbanken.
Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte bereits mit Beschluss vom 21. Oktober 2014 (XI ZB 12/12) anders als das Oberlandesgericht Frankfurt am Main einen Prospektfehler hinsichtlich der Darstellung der Umhängung im Prospekt bejaht und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung bezüglich der offenen Verschuldens- und Kausalitätsfragen an das Oberlandesgericht zurückverwiesen (siehe Pressemitteilung Nr. 186/2014 vom 11. Dezember 2014). Mit dem nunmehr angegriffenen Musterentscheid vom 30. November 2016 hat das Oberlandesgericht zu Gunsten der Musterklägerseite und zu Lasten der Musterbeklagten u.a. festgestellt, dass die Musterbeklagte schuldhaft gehandelt bzw. diese die Verschuldensvermutung nicht widerlegt habe (§ 46 Abs.1 BörsG aF). Es hat ferner festgestellt, dass der im Prospekt unrichtig dargestellte Sachverhalt zu einer Minderung des Börsenpreises beigetragen habe (§ 46 Abs. 2 Nr. 2 aF). Zu Lasten der Musterklägerseite hat es u.a. die begehrte Feststellung, dass der Erwerb der Aktien aufgrund des fehlerhaften Prospekts erfolgt sei (§ 46 Abs. 2 Nr. 1 BörsG aF), nicht getroffen, weil dies individuell in den Ausgangsverfahren zu klären sei. Hiergegen und gegen eine Vielzahl weiterer Teile des Musterentscheids zu einzelnen Verschuldens- und Kausalitätsfragen richten sich die wechselseitigen Rechtsbeschwerden der Musterklägerseite und der Musterbeklagten.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der XI. Zivilsenat hat die die Börsenpreisminderung (§ 46 Abs. 2 Nr. 2 BörsG aF) betreffenden Teile des Musterentscheids aufgehoben und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen, welches nunmehr durch Einholung eines Sachverständigengutachtens weitere Feststellungen zur Ursächlichkeit der Börsenpreisminderung zu treffen haben wird. Demgegenüber halten die Ausführungen des Oberlandesgerichts zum Verschulden der Musterbeklagten (§ 46 Abs. 1 BörsG aF) und zur individuell in den Ausgangsverfahren zu klärenden Ursächlichkeit des Prospekts für den Aktienerwerb (§ 46 Abs. 2 Nr. 1 BörsG aF) der rechtlichen Überprüfung im Wesentlichen stand. Hinsichtlich einer Vielzahl weiterer Streitpunkte, auf die es unter Zugrundlegung der jetzt geklärten rechtlichen Maßstäbe nicht oder nicht mehr ankommt, hat der Senat den Vorlagebeschluss des Landgerichts Frankfurt am Main nebst Erweiterungsbeschlüssen unter Aufhebung des Musterentscheids für gegenstandslos erklärt.
Die Ausführungen des Oberlandesgerichts zur haftungsausfüllenden Kausalität nach § 46 Abs. 2 Nr. 2 BörsG aF sind in zweifacher Hinsicht rechtsfehlerhaft. Zum einen hat es zu Unrecht angenommen, es sei entscheidend, welche Auswirkungen die unrichtige Darstellung im Prospekt auf den Börsenpreis zum Zeitpunkt des Erwerbs gehabt habe. Damit hat das Oberlandesgericht verkannt, dass es für den Haftungsausschluss des § 46 Abs. 2 Nr. 2 BörsG aF nicht darauf ankommt, ob der Prospektfehler als solcher, also die unrichtige oder unvollständige Angabe im Prospekt (hier die Darstellung der Umhängung als Verkauf) zur Minderung des Börsenpreises beigetragen hat, sondern darauf, ob der Sachverhalt, über den unrichtige oder unvollständige Angaben im Prospekt enthalten sind (hier die Umhängung ), für die Börsenpreisminderung mitursächlich war. Zum anderen ist das Oberlandesgericht zu Unrecht davon ausgegangen, der Haftungsausschluss des § 46 Abs. 2 Nr. 2 BörsG aF greife schon dann ein, wenn der Erwerbspreis das maßgebliche Risiko bereits berücksichtige, dieses also „eingepreist“ sei. Entscheidend ist vielmehr, ob der nach dem Erwerb eingetretene Kursrückgang zumindest mitursächlich darauf beruht, dass sich das dem unrichtig prospektierten Sachverhalt innewohnende Risiko tatsächlich verwirklicht hat. Um dies zu widerlegen, hat die Musterbeklagte den Nachweis zu führen, dass weder der Wertverlust der von der Umhängung betroffenen Aktien noch die Realisierung des dividendenrelevanten Abschreibungsrisikos mitursächlich für die nachteilige Entwicklung des Börsenpreises geworden sind. Da der Senat die hierfür erforderliche tatrichterliche Würdigung nicht selbst vornehmen kann, war der Musterentscheid teilweise aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
Zutreffend hat das Oberlandesgericht hingegen festgestellt, dass die Musterbeklagte den nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 BörsG aF erforderlichen Nachweis, dass die Wertpapiere nicht aufgrund des Prospekts erworben wurden, nicht bereits dadurch erbringen kann, dass sie das anfängliche Fehlen oder den späteren Wegfall einer durch den Prospekt hervorgerufenen „Anlagestimmung“ darlegt und beweist. Mit der reformierten börsenrechtlichen Prospekthaftung hat der Gesetzgeber die Rechtsfigur der Anlagestimmung aufgegeben. An deren Stelle ist das individuelle Erwerbsmotiv des Anlegers getreten. Die Musterbeklagte hat deswegen den Nachweis, dass im jeweiligen Einzelfall der individuelle Erwerbsentschluss nicht durch den fehlerhaften Prospekt beeinflusst wurde, zu führen. Da sich der Entlastungsnachweis auf einzelfallbezogene Umstände in der Person des Erwerbers bezieht, kann er – ebenso wie eine etwaige Kenntnis des Erwerbers vom Prospektfehler (§ 46 Abs. 2 Nr. 3 BörsG aF) – nur in den ausgesetzten Ausgangsverfahren und nicht im Kapitalanleger-Musterverfahren geführt werden. Spiegelbildlich lässt sich – anders als von Musterklägerseite begehrt – nicht aufgrund des Vorliegens einer Anlagestimmung bereits im Musterverfahren feststellen, dass die Musterbeklagte den Kausalitätsgegenbeweis in keinem der ausgesetzten Verfahren führen können wird. Zutreffend hat das Oberlandesgericht auch gesehen, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Prospekt und der Anlageentscheidung nicht dadurch ausgeschlossen ist, dass der Anleger den fehlerhaften Prospekt nicht gelesen oder gar von seiner Existenz nichts gewusst hat. Vielmehr genügt ein bloß mittelbarer Prospekteinfluss, wenn der Erwerb aufgrund der Anlageempfehlung von Dritten getätigt wurde und diese wiederum durch den Prospekt beeinflusst waren. Dabei müssen – anders als nach der früheren Rechtsfigur der Anlagestimmung – solche Empfehlungen von dritter Seite weder zur Einschätzung des Wertpapiers in Fachkreisen beigetragen haben, noch dazu geeignet oder bestimmt gewesen sein, auf das Anlagemotiv einer Vielzahl von Erwerbern einzuwirken.
Rechtsfehlerfrei ist das Oberlandesgerichts ferner zu dem Ergebnis gelangt, dass der Musterbeklagten hinsichtlich der unzutreffenden Prospektangabe jedenfalls mit Blick auf die von ihr selbst vorzunehmende Plausibilitätskontrolle eine Entlastung von dem (vermuteten) Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht gelungen ist (§ 46 Abs. 1 BörsG aF). Dem Prospektverantwortlichen obliegt es auch bei Hinzuziehung externer fachkundiger Berater bei der Prospekterstellung stets, das Ergebnis einer eigenen Bewertung und Plausibilitätskontrolle zu unterziehen. Diese kann durch das Vertrauen in die Qualifikation und Fachkompetenz der hinzugezogenen Berater nicht ersetzt werden. Es war aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht den Vortrag der Musterbeklagten, ihr sei bei der Schluss- und Plausibilitätsprüfung – in voller Kenntnis des tatsächlichen Sachverhalts – die „sprachliche Ungenauigkeit“ aufgrund eines „punktuellen Versehens“ schlicht nicht aufgefallen, für unzureichend gehalten hat. Kann sich die Musterbeklagte vom Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht gemäß § 46 Abs. 1 BörsG aF entlasten, kommt es auf die Frage, ob die Verschleierung der wahren Beteiligungsverhältnisse im Prospekt vorsätzlich erfolgte, nicht mehr an.