Besetzung freier Richterstellen am polnischen Obersten Gericht

02. März 2021 -

Der Europäische Gerichtshof hat am 02.03.2021 zum Aktenzeichen C-824/18 entschieden, dass die schrittweisen Änderungen des polnischen Gesetzes über den Landesjustizrat, die zur Folge haben, dass die effektive gerichtliche Kontrolle der Entscheidungen des Landesjustizrats, mit denen dem Präsidenten der Republik Kandidaten für das Amt eines Richters am Obersten Gericht unterbreitet werden, entfallen ist, können gegen das Unionsrecht verstoßen.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 31/2021 vom 02.03.2021 ergibt sich:

Im Fall eines erwiesenen Verstoßes verpflichtet der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts das nationale Gericht, solche Änderungen unangewendet zu lassen.

Mit im August 2018 gefassten Entschließungen entschied die Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) (im Folgenden: KRS), dem Präsidenten der Republik Polen für fünf Personen (im Folgenden: Beschwerdeführer) keine Vorschläge zur Ernennung auf Richterstellen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) zu unterbreiten und andere Kandidaten für diese Stellen vorzuschlagen. Die Beschwerdeführer erhoben gegen diese Entschließungen beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen), dem vorlegenden Gericht, Beschwerde. Für solche Beschwerden galt zu dem Zeitpunkt das Gesetz über den Landesjustizrat (im Folgenden: KRS-Gesetz) in der durch ein Gesetz vom Juli 2018 geänderten Fassung. Darin war zum einen vorgesehen, dass, wenn nicht alle Teilnehmer an einem Verfahren zur Ernennung auf eine Richterstelle des Obersten Gerichts die betreffende Entschließung der KRS anfochten, diese Entschließung für den Kandidaten bestandskräftig wurde, der für diese Stelle vorgeschlagen wurde, so dass dieser vom Präsidenten der Republik ernannt werden konnte. Außerdem konnte die etwaige Aufhebung einer solchen Entschließung auf die Beschwerde eines nicht zur Ernennung vorgeschlagenen Teilnehmers nicht zu einer neuen Beurteilung der Lage dieses Teilnehmers im Hinblick auf eine etwaige Besetzung der betreffenden Stelle führen. Zum anderen konnte eine solche Beschwerde nicht damit begründet werden, dass nicht zutreffend beurteilt worden sei, ob die Kandidaten die Kriterien erfüllten, die bei der Entscheidung über die Einreichung des Ernennungsvorschlags berücksichtigt wurden. In seinem ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen hat das vorlegende Gericht in der Erwägung, dass eine solche Regelung in der Praxis jede Wirksamkeit der Beschwerde eines nicht zur Ernennung vorgeschlagenen Teilnehmers ausschließe, beschlossen, den Gerichtshof nach der Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Unionsrecht zu befragen.
Nach dieser ursprünglichen Befassung wurde das KRS-Gesetz 2019 erneut geändert. Aufgrund dieser Reform ist es zum einen nicht mehr möglich, Beschwerden gegen Entscheidungen der KRS über die Unterbreitung oder Nichtunterbreitung von Kandidaten für die Ernennung auf Richterstellen des Obersten Gerichts zu erheben. Zum anderen wurden mit dieser Reform solche noch anhängigen Beschwerden von Rechts wegen für erledigt erklärt und dem vorlegenden Gericht de facto seine Zuständigkeit für die Entscheidung über diese Art von Rechtsbehelfen sowie die Möglichkeit genommen, eine Antwort auf die Vorlagefragen zu erhalten, die es an den Gerichtshof gerichtet hatte. Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof in seinem ergänzenden Vorabentscheidungsersuchen zur Vereinbarkeit dieser neuen Regelung mit dem Unionsrecht befragt.

Würdigung durch den Gerichtshof

Als Erstes entscheidet die Große Kammer des Gerichtshofs zunächst, dass sowohl das durch Art. 267 AEUV geschaffene System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof als auch der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Gesetzesänderungen wie den angeführten, die 2019 in Polen vorgenommen wurden, entgegenstehen, wenn sich herausstellt, dass sie die spezifische Wirkung haben, den Gerichtshof daran zu hindern, zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen wie die ihm vom vorlegenden Gericht unterbreiteten zu beantworten, und jede Möglichkeit auszuschließen, dass ein nationales Gericht in Zukunft ähnliche Fragen erneut vorlegt. Dabei ist es Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände, insbesondere des Kontexts, in dem der polnische Gesetzgeber diese Änderungen erlassen hat, zu beurteilen, ob dies vorliegend der Fall ist.

Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, um den Einzelnen ihren Anspruch auf einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten, dieser Art von Gesetzesänderungen ebenfalls entgegenstehen kann. Das ist der Fall, wenn sich herausstellt, was wiederum das vorlegende Gericht auf der Grundlage aller maßgeblichen Umstände zu beurteilen hat, dass diese Änderungen geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der auf der Grundlage der Entschließungen der KRS ernannten Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen. Solche Änderungen könnten dann dazu führen, dass diese Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.

Diese Schlussfolgerung stützt der Gerichtshof auf die Feststellung, dass die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraussetzen, dass es Regeln für die Ernennung von Richtern gibt. Zudem hebt der Gerichtshof die entscheidende Rolle der KRS bei der Ernennung auf eine Richterstelle des Obersten Gerichts hervor, da die Handlung, mit der sie ihren Vorschlag abgibt, eine unabdingbare Voraussetzung für die spätere Ernennung eines Kandidaten darstellt. Somit kann der Grad der Unabhängigkeit von der polnischen Legislative und Exekutive, über den die KRS verfügt, für die Beurteilung von Bedeutung sein, ob die von ihr ausgewählten Richter die Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllen können. Ferner weist der Gerichtshof darauf hin, dass sich das etwaige Fehlen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs im Zusammenhang mit einem Verfahren zur Ernennung von Richtern eines nationalen obersten Gerichts als problematisch erweisen kann, wenn alle maßgeblichen Begleitumstände, die ein solches Verfahren in dem betreffenden Mitgliedstaat kennzeichnen, bei den Rechtsunterworfenen systemische Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter wecken können. Sollte das vorlegende Gericht auf der Grundlage aller maßgeblichen Umstände, die es in seiner Vorlageentscheidung angeführt hat, und insbesondere wegen der jüngsten Gesetzesänderungen hinsichtlich des Verfahrens zur Ernennung der Mitglieder der KRS zu dem Ergebnis kommen, dass die KRS keine hinreichenden Garantien für ihre Unabhängigkeit bietet, erwiese sich ein den erfolglosen Kandidaten offenstehender gerichtlicher Rechtsbehelf als erforderlich, um dazu beizutragen, das Verfahren zur Ernennung der betreffenden Richter vor unmittelbarer oder mittelbarer Einflussnahme zu schützen, und um letztlich zu verhindern, dass die genannten Zweifel entstehen können.

Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass, wenn das vorlegende Gericht zu dem Schluss gelangt, dass der Erlass der Gesetzesänderungen von 2019 unter Verstoß gegen das Unionsrecht erfolgt ist, der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts das vorlegende Gericht verpflichtet, diese Änderungen unabhängig davon unangewendet zu lassen, ob diese gesetzlicher oder verfassungsrechtlicher Natur sind, und seine frühere Zuständigkeit für die Entscheidung über die vor diesen Änderungen bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten weiterhin wahrzunehmen.

Als Zweites entscheidet der Gerichtshof, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Gesetzesänderungen wie den oben angeführten, die im Jahr 2018 in Polen vorgenommen wurden, entgegensteht, wenn sich herausstellt, dass sie geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der auf ihrer Grundlage ernannten Richter für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und daher dazu führen können, dass diese Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.

Letztlich ist es Sache des vorlegenden Gerichts, darüber zu entscheiden, ob dies vorliegend der Fall ist. Hinsichtlich der Erwägungen, die das vorlegende Gericht dabei zu berücksichtigen haben wird, weist der Gerichtshof darauf hin, dass sich die nationalen Bestimmungen über den gerichtlichen Rechtsbehelf, der im Zusammenhang mit einem Verfahren zur Ernennung von Richtern eines nationalen obersten Gerichts eröffnet ist, als problematisch im Hinblick auf die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen erweisen können, wenn sie die Wirksamkeit des bis dahin bestehenden Rechtsbehelfs beseitigen. Erstens hat der fragliche Rechtsbehelf infolge der Gesetzesänderungen von 2018 keinerlei echte Wirksamkeit mehr und bietet nur noch den Anschein eines gerichtlichen Rechtsbehelfs. Zweitens sind im vorliegenden Fall auch die Begleitumstände aller anderen Reformen zu berücksichtigen, die in letzter Zeit das Oberste Gericht und die KRS betroffen haben. Über die zuvor erwähnten Zweifel an der Unabhängigkeit der KRS hinaus weist der Gerichtshof auf den Umstand hin, dass die Gesetzesänderungen von 2018 sehr kurz vor dem Zeitpunkt eingeführt wurden, zu dem die KRS in ihrer neuen Zusammensetzung über Bewerbungen wie die der Beschwerdeführer zu entscheiden hatte, die eingereicht wurden, um zahlreiche Richterstellen am Obersten Gericht zu besetzen, die aufgrund des Inkrafttretens verschiedener Änderungen des Gesetzes über das Oberste Gericht für unbesetzt erklärt oder neu geschaffen wurden.

Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass das vorlegende Gericht, wenn es zu dem Ergebnis kommt, dass die Gesetzesänderungen von 2018 gegen das Unionsrecht verstoßen, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts diese Änderungen zugunsten der Anwendung der zuvor geltenden nationalen Bestimmungen unangewendet lassen und die in diesen Bestimmungen vorgesehene Kontrolle selbst ausüben muss.