Beschwerde nach § 13 AGG berechtigt nicht zur Kündigung

11. Juli 2020 -

Das Arbeitsgericht Kassel hat mit Urteil vom 11.02.2009 zum Aktenzeichen 8 Ca 424/08 entschieden, dass eine Beschwerde des Arbeitnehmers nach § 13 AGG den Arbeitgeber nicht dazu berechtigt, den Arbeitnehmer zu kündigen.

Frau Im Schockiert Wegen Kündigun

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen sowie hilfsweise ordentlichen, verhaltensbedingten Kündigung vom 03. November 2008.

Die am … 1961 geborene Klägerin, welche geschieden ist und ein unterhaltsberechtigtes Kind hat, ist seit dem 01. März 2003 bei der Beklagten, welche in der Organisationsform einer gemeinnützigen GmbH u. a. das …in Kassel betreibt, als Arzthelferin beschäftigt. Träger der Beklagten ist die … gGmbH in Fulda, deren alleiniger Gesellschafter das Haus der … in Fulda – KdöR – ist. Die Beklagte ist dem … angeschlossen. Bei der Beklagten werden regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer in Vollzeit, ausschließlich der Auszubildenden, beschäftigt. Eine Mitarbeitervertretung ist installiert. Das Bruttomonatsgehalt der Klägerin betrug zuletzt 2.300,00 EUR.

Unter dem 17. Oktober 2008 verfasste die Klägerin eine förmliche Beschwerde mit dem Inhalt, dass sie am 16. Oktober 2008 um 8.30 Uhr auf der Station C 2 im Zimmer 280 durch Dr. med. … vor der anwesenden Patientin und dem Rest des chirurgischen Teams auf der Visite als „halberKanacke“ bezeichnet worden sei. Bezüglich der weiteren Einzelheiten der schriftlichen Beschwerde der Klägerin wird auf Bl. 21 d. A. verwiesen.

Nach Eingang dieser Beschwerde bei der Beklagten am 17. Oktober 2008 leitete die Beklagte Ermittlungen ein. Nach Befragung des Dr. med. … führte dieser in einem Schreiben vom 21. Oktober 2008, eingegangen bei der Beklagten am 22. Oktober 2008, aus, dass er die Äußerung „halberKanacke“ gegenüber der Klägerin nicht getätigt habe. Auch habe er das Zimmer 280 auf der Station C 2 am 16. Oktober 2008 bereits gegen 8.00 Uhr betreten, die Patientin sei jedoch nicht angetroffen worden. Zudem habe er am 16. Oktober 2008 von 8.24 Uhr bis 8.48 Uhr eine Leistenhernienoperation vorgenommen. Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Schreibens des Dr. med. … wird auf Bl. 20 d. A. verwiesen.

Mit Schreiben vom 30. Oktober 2008 hörte die Beklagte die bei ihr eingerichtete Mitarbeitervertretung zu der beabsichtigten außerordentlichen sowie hilfsweise ordentlichen Kündigung der Klägerin an. Bezüglich der Einzelheiten des Anhörungsschreibens wird auf Bl. 74 ff. der Akte verwiesen. Mit Schreiben vom 31. Oktober 2008 teilte die Mitarbeitervertretung mit, dass „nach der vorliegenden Sachlage keine andere Möglichkeit gesehen werde, die Mitarbeiterin Frau … weiterzubeschäftigen“. Diesbezüglich wird auf Bl. 76 d. A. verwiesen.

Am 03. November 2008 wurde im Beisein der Mitarbeitervertretung ein Gespräch mit der Klägerin über den Inhalt ihres Beschwerdeschreibens vom 17. Oktober 2008 geführt.

Mit Schreiben vom 03. November 2008, der Klägerin zugegangen am 03. November 2008, hat die Beklagte sodann das Arbeitsverhältnis fristlos, sowie hilfsweise ordentlich zum 31. März 2009 gekündigt. Hierzu wird auf Bl. 6 d. A. verwiesen.

Mit ihrer am 13. November 2008 beim Arbeitsgericht Kassel eingegangenen und der Beklagten am 19. November 2008 zugestellten Klage erhebt die Klägerin Kündigungsschutzklage.

Nach § 626 Abs. 1 BGB kann ein Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Ein außerordentlicher Kündigungsgrund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB kann sowohl in der Verletzung von Hauptpflichten als auch in der Verletzung von Nebenpflichten liegen.

Die vorsätzliche Herabwürdigung und Diffamierung eines Vorgesetzten durch einen Arbeitnehmer kann grundsätzlich einen geeigneten wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB darstellen (vgl. BAG, 10. Oktober 2002, 2 AZR 418/01, AP BGB § 626 Nr. 180, DB 2003, 1797 m. w. N.). Entsprechendes gilt für bewusst wahrheitswidrig aufgestellte Tatsachenbehauptungen, etwa wenn sie den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllen. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit schützt zum einen weder Formalbeleidigungen und bloße Schmähungen noch bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen. Zum anderen ist dieses Grundrecht nicht schrankenlos gewährt, sondern wird insbesondere durch das Recht der persönlichen Ehre gemäß Artikel 5 Abs. 2 Grundgesetz beschränkt und muss in ein ausgeglichenes Verhältnis mit diesem gebracht werden. Zwar können die Arbeitnehmer unternehmensöffentlich Kritik am Arbeitgeber und den betrieblichen Verhältnissen, gegebenenfalls auch überspitzt und polemisch, äußern. Im groben Maße unsachliche Angriffe, die u. a. zur Untergrabung der Position eines Vorgesetzten führen können, muss der Arbeitgeber dagegen nicht hinnehmen. Dabei ist die strafrechtliche Beurteilung kündigungsrechtlich nicht ausschlaggebend. Auch eine einmalige Ehrverletzung ist kündigungsrelevant und umso schwerwiegender, je unverhältnismäßiger und je überlegter sie erfolgte (BAG, a. a. O., m. w. N.).

Im vorliegenden Fall kann dahinstehen, ob die Klägerin tatsächlich am 16. Oktober 2008 von ihrem Vorgesetzten Dr. med. … als „halberKanacke“ bezeichnet worden ist. Denn selbst unterstellt, dies wärenichtder Fall gewesen, kann daraus und aus den weiteren noch auszuführenden Gesamtumständen im vorliegenden Fall nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin damit im Wege der von ihr verfassten Beschwerde am 17. Oktober 2008 bewusst wahrheitswidrig eine Tatsachenbehauptung aufgestellt, damit den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllt und damit einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB gesetzt hat.

Nachdem die Klägerin entsprechend ihrer Behauptung am 16. Oktober 2008 wahrgenommen haben will, dass sie durch den Dr. med. … als „halberKanacke“ bezeichnet wurde – wobei ausdrücklich dahinstehen kann, ob eine solche Titulierung tatsächlich stattgefunden hat –, wandte sich die Klägerin mittels eines Beschwerdeformulars an die Beklagte. Sie nahm damit ein ihr zustehendes Recht aus § 13 AGG wahr. Gemäß § 13 AGG haben Beschäftigte das Recht, sich bei den zuständigen Stellen des Betriebes, des Unternehmens oder der Dienststelle zu beschweren, wenn sie sich im Zusammenhang mit ihrem Beschäftigungsverhältnis vom Arbeitgeber, von Vorgesetzten, anderen Beschäftigten oder Dritten wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt fühlen.

Die Klägerin wählte für ihre zu diesem Zeitpunkt aus ihrer Sicht berechtigte Beschwerde den internen Weg zur Beschwerdestelle der Beklagten. Sie wählte ausdrücklich nicht den Weg an die Öffentlichkeit, z. B. in dem sie sich an eine Zeitung oder andere öffentliche Medien wandte.

Im vorliegenden Fall muss davon ausgegangen werden, dass die Beschwerde der Klägerin vom 16. Oktober 2008 die erste ist, welche die Klägerin in ihrer ca. 6-jährigen Tätigkeit bei der Beklagten verfasst hat. Es ist also nicht so, dass die Klägerin immer wieder Beschwerden verfasst hätte, welche sich nach eingehender Überprüfung durch die Beklagte als falsch herausgestellte hätten. Es kann der Klägerin nicht vorgeworfen werden, dass sie ihr Recht gemäß § 13 AGG ausübt und eine Beschwerde verfasst. Es kann nicht festgestellt werden, dass eine bewusst wahrheitswidrig aufgestellte Tatsachenbehauptung seitens der Klägerin vorliegt, wenn sich im Wege einer Aufklärungsmaßnahme nach einer erhobenen Beschwerde nach „Vernehmung“ des beschuldigten Vorgesetzten aus Sicht der Beklagten herausstellt, dass die erhobenen Vorwürfe falsch sind. Zumal die Klägerin auch im Kammertermin an ihrer Behauptung festgehalten hat, die Bezeichnung durch den Vorgesetzten Dr. … als „halberKanacke“ tatsächlich wahrgenommen zu haben. Würden Beschwerden, wenn sich diese vom Inhalt her als falsch erwiesen, immer für den Beschwerdeführer die Gefahr einer fristlosen Kündigung seinerseits auslösen, so würde das gesamte auch vom AGG vorgesehene Beschwerdeverfahren at absurdum geführt.

Auch aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten hat die fristlose Kündigung das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst. Gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 AGG darf der Arbeitgeber Beschäftigte nicht wegen der Inanspruchnahme von Rechten nach diesem Abschnitt benachteiligen. § 16 Abs. 1 Satz 1 AGG verbietet also eine Benachteiligung von Arbeitnehmern für den Fall, dass sie eine Beschwerde gemäß § 13 AGG einreichen. Zwar hat die Beklagte gegen dieses Maßregelungsverbot durch den Ausspruch der Kündigung vom 03. November 2008 nicht deswegen verstoßen, weil die Klägerin „an sich“ eine Beschwerde erhoben hat. Eine unzulässige Maßregelung in Form der ausgesprochenen Kündigung erfolgte jedoch dadurch, dass die Beklagte von einem falschen Inhalt der erhobenen Beschwerde ausging. Ob § 16 Abs. 1 Satz 1 AGG Maßregelungen auch bei vermeintlich inhaltlich falschen Beschwerden auf Grundlage des den Arbeitnehmern zustehenden Beschwerderechts gemäß § 13 AGG gänzlich verbietet, oder ob der Arbeitgeber berechtigt wäre, gegebenenfalls eine Abmahnung auszusprechen, kann (hier) dahinstehen. Eine fristlose Kündigung jedenfalls ist aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht das mildeste Mittel. Eine Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung der Klägerin bis zum Ende der ordentlichen Kündigung am 31. März 2009 ist nicht ersichtlich, zumal die Klägerin nicht ausschließlich Tätigkeiten für Dr. med. … erbrachte, sondern auch für andere Chefärzte.

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Das Arbeitsverhältnis wird auch nicht auf Grund der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen, verhaltensbedingten Kündigung zum 31. März 2009 sein Ende finden. Die ordentliche Kündigung ist nicht sozial gerechtfertigt. Ein verhaltensbedingter Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses liegt nicht vor.

Gemäß § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Bereich entgegenstehen, bedingt ist. In Abgrenzung zu Kündigungsgründen in der Person ist unter einem kündigungsrelevanten Verhalten eine solche Handlungsweise zu sehen, die dem Arbeitnehmer vorwerfbar, d. h. von ihm steuerbar ist. Anders als bei der personenbedingten Kündigung setzt eine verhaltensbedingte Kündigung voraus, dass dem Arbeitnehmer vorgeworfen werden kann, er hätte sich auch anders verhalten können (Erfurter Kommentar/Oetker, 8. Auflage 2008, § 1 KSchG, Rn. 188 m. w. N.).

Im vorliegenden Fall sind solche verhaltensbedingten Gründe, die die Kündigung der Klägerin sozial rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich. Diesbezüglich wird zunächst auf die obigen Ausführungen unter I. verwiesen. Eine vorsätzliche Herabsetzung und Diffamierung des Dr. med. … wurde durch die Ausführungen der Klägerin in ihrem Beschwerdeschreiben vom 17. Oktober 2008 nicht begangen.

Jedenfalls aber muss im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung festgehalten werden, dass nach Abwägung aller Umstände die ausgesprochene Kündigung nicht das mildeste Mittel war. Zu Gunsten der Klägerin ist dabei zu berücksichtigen, dass sie seit sechs Jahren bei der Beklagten beschäftigt ist und bislang nicht abgemahnt wurde. Sie ist geschieden und allein erziehende Mutter eines Kindes. Schließlich hat sie mit Verfassung der Beschwerde ihr Recht aus § 13 AGG wahrgenommen. Zu Gunsten der Beklagten ist festzuhalten, dass eine vorsätzliche Herabwürdigung von Vorgesetzten grundsätzlich nicht geduldet werden muss. Hat eine solche Herabwürdigung – wobei erneut ausdrücklich offen bleiben kann, ob die Vorwürfe der Klägerin gegenüber Dr. med. … haltlos sind –, seine Ursache in einer Beschwerde gemäß § 13 AGG, so kann diese (eventuell falsche) Beschwerde nicht zu einer sofortigen Kündigung der Klägerin führen. Vielmehr ist hier vom Erfordernis einer vorherigen Abmahnung auszugehen, zumal es sich im vorliegenden Fall um eine erstmalige etwaige falsche Beschwerde der Klägerin gehandelt hätte.