Das Gericht der Europäischen Union hat am 02.02.2022 zum Aktenzeichen T-399/19 den Beschluss der Kommission über die Abweisung der Beschwerde eines polnischen Großhändlers für nichtig erklärt, da die Kommission die Verfahrensrechte nicht beachtet hat, die diesem polnischen Großhändler im Rahmen des Verfahrens zustanden, das zum Erlass dieses Beschlusses führte.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 22/2022 vom 02.02.2022 ergibt sich:
Zwischen 2011 und 2015 ergriff die Europäische Kommission mehrere Maßnahmen zur Untersuchung des Funktionierens der Gasmärkte in Mittel- und Osteuropa. In diesem Rahmen leitete sie eine Untersuchung gegen die Gazprom PJSC und die Gazprom export LLC (im Folgenden zusammen: Gazprom) in Bezug auf die Gasversorgung in acht Mitgliedstaaten ein, nämlich in Bulgarien, der Tschechischen Republik, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen und der Slowakei (im Folgenden: betroffene Länder).
Am 22. April 2015 übersandte die Kommission Gazprom eine Mitteilung der Beschwerdepunkte1, in der sie Gazprom vorwarf, ihre beherrschende Stellung auf den vorgelagerten nationalen Märkten für die Lieferung von Gas auf Großhandelsebene in den betroffenen Ländern zu missbrauchen, um einen ungehinderten Gastransport in diesen Ländern zu verhindern, was gegen Art. 102 AEUV verstoße, der einen solchen Missbrauch verbiete
In der Mitteilung der Beschwerdepunkte vertrat die Kommission u. a. die Ansicht, dass Gazprom seine Gaslieferungen nach Polen von bestimmten Zusicherungen in Bezug auf die Gastransportinfrastruktur abhängig gemacht habe. Diese Zusicherungen hätten sich auf die Zustimmung der Klägerin, der polnischen Großhändlerin Polskie Górnictwo Naftowe i Gazownictwo S.A., zu einer verstärkten Kontrolle Gazproms über die Verwaltung der Investitionen in den polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung, einer der wichtigsten Transit-Gasfernleitungen in Polen, bezogen (im Folgenden: Jamal-Beschwerdepunkte).
Mit Beschluss vom 24. Mai 20182 billigte die Kommission die Verpflichtungszusagen, die Gazprom vorgelegt hatte, um die wettbewerbsrechtlichen Bedenken der Kommission auszuräumen, erklärte diese Verpflichtungszusagen für bindend und schloss das Verwaltungsverfahren in dieser Sache ab.
Parallel zu diesem Verfahren reichte die Klägerin am 9. März 2017 eine Beschwerde ein, mit der sie missbräuchliche Praktiken von Gazprom beanstandete, die sich zum großen Teil mit den von der Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte geäußerten Bedenken überschnitten. Die Beschwerde enthielt Behauptungen, wonach Gazprom im Zusammenhang mit Lieferengpässen, die die Klägerin in den Jahren 2009 und 2010 erfahren habe, den Abschluss eines Vertrags über die Lieferung zusätzlicher Gasmengen von Bedingungen abhängig gemacht habe, die insbesondere darauf abgezielt hätten, ihren Einfluss auf die Verwaltung des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung zu verstärken (im Folgenden: Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen). Mit den letztgenannten Behauptungen wurden zum Teil ähnliche Praktiken wie die in den Jamal-Beschwerdepunkten genannten beanstandet.
Am 23. Januar 2018 teilte die Kommission der Klägerin schriftlich mit, dass sie beabsichtige, die Beschwerde abzuweisen, und forderte sie auf, binnen vier Wochen Stellung zu nehmen (im Folgenden: Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung der Beschwerde). Mit Beschluss vom 17. April 2019 (im Folgenden: angefochtener Beschluss)3 wies die Kommission die Beschwerde der Klägerin ab.
Im Rahmen ihrer Prüfung der Behauptungen unterschied die Kommission zwischen den Behauptungen in der Beschwerde, die den wettbewerbsrechtlichen Bedenken entsprachen, die von den Verpflichtungszusagen von Gazprom erfasst wurden, und den weiteren in dieser Beschwerde vorgebrachten Behauptungen und wies, was die zweite Kategorie von Behauptungen anbelangt, die Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen zurück.
Die Klägerin erhob eine Klage auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses.
Das EuG hat der Klage stattgegeben.
Würdigung durch das Gericht
Das Gericht hat als Erstes die Rügen der Klägerin geprüft, mit denen sie der Kommission vorwarf, sie habe ihr Recht auf Anhörung und auf Information im Rahmen des auf ihre Beschwerde hin eingeleiteten Verwaltungsverfahrens verletzt.
Insoweit hat das Gericht zunächst darauf hingewiesen, dass nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 die Kommission, wenn sie der Auffassung ist, dass die ihr vorliegenden Angaben es nicht rechtfertigen, einer Beschwerde nachzugehen, dem Beschwerdeführer die Gründe hierfür mitteilt und ihm eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme setzt.
In dem der Klägerin gemäß dieser Bestimmung übersandten Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung der Beschwerde hatte die Kommission u. a. die Auffassung vertreten, dass wegen der begrenzten Wahrscheinlichkeit der Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV keine hinreichenden Gründe bestünden, die Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen weiter zu prüfen. Diese vorläufige Schlussfolgerung beruhte auf zwei Rechtfertigungen, nämlich zum einen auf der Entscheidung des Urząd Regulacji Energetyki (polnische Energieregulierungsbehörde), mit der die Betreiberin des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung, die Gaz-System S.A., als unabhängige Netzbetreiberin zertifiziert wurde (im Folgenden: Zertifizierungsentscheidung), und zum anderen auf dem „zwischenstaatlichen Kontext“ der Beziehungen zwischen der Republik Polen und der Russischen Föderation im Gasbereich.
Während die Kommission den Verweis auf die Zertifizierungsentscheidung als Rechtfertigung für ihre Schlussfolgerung hinsichtlich einer begrenzten Wahrscheinlichkeit der Feststellung einer Zuwiderhandlung im Zusammenhang mit den Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen in den angefochtenen Beschluss übernahm, führte sie dort jedoch auch einen Verweis auf den sogenannten Einwand staatlichen Handelns als zweite Rechtfertigung ein.
Das Gericht hat daher ausgeführt, dass der Einwand staatlichen Handelns, der restriktiv anzuwenden ist, es erlaubt, ein wettbewerbswidriges Verhalten vom Anwendungsbereich der Art. 101 und 102 AEUV auszunehmen, wenn dieses Verhalten den betroffenen Unternehmen durch nationale Rechtsvorschriften, durch einen durch solche Rechtsvorschriften geschaffenen rechtlichen Rahmen oder durch einen von nationalen Behörden ausgeübten übermächtigen Druck vorgeschrieben bzw. aufgezwungen wird.
Allerdings hat das Gericht festgestellt, dass dieser Einwand in den maßgeblichen Erwägungen des Schreibens betreffend die beabsichtigte Abweisung der Beschwerde, das dem angefochtenen Beschluss vorausging, nicht aufgeführt war. Angesichts der besonderen, haftungsbefreienden Natur des Einwands staatlichen Handelns und des Umstands, dass die Rechtsprechung seine Anwendung im Fall staatlichen Zwangs, der von einem Drittstaat ausgeübt wird, nicht anerkannt hat, hätte die Kommission die Klägerin in dem genannten Schreiben ausdrücklich darauf hinweisen müssen, dass ihre vorläufige Beurteilung auf einem möglichen Fall der Anwendung dieses Einwands beruhte, um ihr zu ermöglichen, hierzu gehört zu werden. Nach Ansicht des Gerichts konnte die Kommission von der Klägerin nicht erwarten, dass sie diese implizite Begründung aus den in diesem Schreiben angeführten Argumenten herausliest.
Folglich hat die Kommission, indem sie es unterlassen hat, diese Informationen im Schreiben betreffend die beabsichtigte Abweisung der Beschwerde mitzuteilen, gegen ihre Pflicht verstoßen, die Klägerin gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 zu informieren. Des Weiteren hat das Gericht in Anbetracht des Inhalts der Akten festgestellt, dass der angefochtene Beschluss, was die Rechtfertigung im Zusammenhang mit dem Einwand staatlichen Handelns anbelangt, ohne diesen Verstoß gegen die Verordnung Nr. 773/2004 einen anderen Inhalt hätte haben können, so dass dieser Verstoß zur Nichtigerklärung dieses Beschlusses führen kann.
Eine Nichtigerklärung ist jedoch nur unter der Voraussetzung gerechtfertigt, dass die andere im angefochtenen Beschluss angeführte Rechtfertigung, die sich auf die Zertifizierungsentscheidung bezieht, die Schlussfolgerung der Kommission hinsichtlich der begrenzten Wahrscheinlichkeit, dass gegenüber Gazprom eine Zuwiderhandlung im Zusammenhang mit den Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen festgestellt werde, nicht untermauert.
Hierzu – und als Zweites – hat das Gericht zum einen festgestellt, dass die Kommission dieser Zertifizierungsentscheidung keine entscheidende Bedeutung beimessen konnte, ohne zu berücksichtigen, dass der verfügende Teil dieser Entscheidung verlangte, den Betrieb der Verdichter- und Messstationen auf dem polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung, der von einem der Klägerin und Gazprom gehörenden Gemeinschaftsunternehmen gewährleistet wird, auf Gaz-System zu übertragen, und ohne die Umstände um das Fehlen dieser Übertragung zu berücksichtigen.
Zum anderen hat das Gericht festgestellt, dass die Kommission, indem sie sich auf die in der Zertifizierungsentscheidung enthaltenen Feststellungen und Beurteilungen bezüglich der Investitionen in den polnischen Abschnitt der Jamal-Gasfernleitung stützte, die in der Beschwerde dargelegten Behauptungen auf die bloße Tragweite der in der Mitteilung der Beschwerdepunkte dargelegten Jamal-Beschwerdepunkte reduziert hat, obwohl die betreffenden Praktiken unterschiedlicher Art waren und über die bloße Frage der Investitionen hinausgingen.
Das Gericht hat daher festgestellt, dass die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, indem sie sich auf die Zertifizierungsentscheidung bezog, um ihre Schlussfolgerung zu stützen, dass die Wahrscheinlichkeit, einen Verstoß von Gazprom gegen Art. 102 AEUV im Zusammenhang mit den Behauptungen bezüglich der Infrastrukturbedingungen festzustellen, begrenzt sei.
Infolge dieses offensichtlichen Beurteilungsfehlers und aufgrund der vorangegangenen Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004, da die Kommission ihrer Verpflichtung, die Klägerin über die Rechtfertigung betreffend den Einwand staatlichen Handelns zu informieren, nicht nachgekommen ist, hat das Gericht den angefochtenen Beschluss für nichtig erklärt.
1 Gemäß Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel [101] und [102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18).
2 Beschluss C(2018) 3106 final der Kommission vom 24. Mai 2018 in einem Verfahren nach Artikel 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und Artikel 54 des EWR-Abkommens (Sache AT.39816 – Vorgelagerte Gasversorgungsmärkte in Mittel- und Osteuropa) (ABl. 2018, C 258, S. 6). Die Klägerin erhob eine Klage auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses, die das Gericht jedoch mit Urteil vom 2. Februar 2022, Polskie Górnictwo Naftowe i Gazownictwo/Kommission (Verpflichtungszusagen von Gazprom), T-616/18, abgewiesen hat (siehe auch Pressemitteilung Nr. 21/22).
3 Beschluss C(2019) 3003 final der Kommission vom 17. April 2019 über die Abweisung einer Beschwerde (Sache AT.40497 – Polnischer Gaspreis).