Der Europäische Gerichtshof hat am 02.09.2021 zum Aktenzeichen C-180/20 die Beschlüsse des Rates über die Anwendung des Partnerschaftsabkommens mit Armenien für nichtig erklärt.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 152/2021 vom 02.09.2021 ergibt sich:
Nach Auffassung des EuGH weist das Partnerschaftsabkommen zwar gewisse Bezüge zur GASP auf, jedoch reichen die Teile oder Absichtserklärungen, die der GASP zugeordnet werden können, nicht aus, um eine eigenständige Komponente dieses Abkommens darzustellen, die es rechtfertigen würde, den Rechtsakt des Rates in zwei getrennte Beschlüsse aufzuspalten.
Das Abkommen über eine umfassende und verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Armenien andererseits (im Folgenden: Partnerschaftsabkommen mit Armenien) wurde am 24. November 2017 unterzeichnet1. Das Abkommen sieht die Einrichtung eines Partnerschaftsrates, eines Partnerschaftsausschusses und die Möglichkeit vor, Unterausschüsse und sonstige Gremien einzurichten. Es sieht ferner vor, dass sich der Partnerschaftsrat eine Geschäftsordnung gibt und darin Aufgaben und Arbeitsweise des Partnerschaftsausschusses festlegt.
Die Europäische Kommission und die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik nahmen am 29. November 2018 gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV gemeinsam einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates der Europäischen Union zur Festlegung des im Namen der Union im Partnerschaftsrat im Hinblick auf die Annahme von Beschlüssen über die Geschäftsordnungen des Partnerschaftsrates, des Partnerschaftsausschusses und von Fachunterausschüssen oder anderen Gremien zu vertretenden Standpunkts an. In ihrem geänderten Vorschlag vom 19. Juli 2019 strich die Kommission den Verweis auf Art. 37 EUV, der den Abschluss von Abkommen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) betrifft, als materielle Rechtsgrundlage. Der Rat spaltete den Beschlussvorschlag in zwei getrennte Beschlüsse auf. Er erließ zum einen den Beschluss 2020/2452, mit dem die Anwendung des Partnerschaftsabkommens mit Ausnahme von Titel II sichergestellt werden sollte und der auf Art. 91, 207 und 209 AEUV als materielle Rechtsgrundlagen in den Bereichen Verkehr, Handel und Entwicklung gestützt wurde. Zum anderen erließ er den Beschluss 2020/2463, der die Anwendung von Titel II dieses Abkommens, der die Zusammenarbeit im Bereich der GASP betrifft, sicherstellen sollte und auf Art. 37 EUV als einzige materielle Rechtsgrundlage gestützt wurde. Der Beschluss 2020/245 wurde mit qualifizierter Mehrheit erlassen, der Beschluss 2020/246 einstimmig. Die Kommission hat die Aufspaltung des Rechtsakts des Rates in zwei Beschlüsse, die Wahl von Art. 37 EUV als Rechtsgrundlage für den Beschluss 2020/246 und die sich daraus ergebende Wahl der Abstimmungsregel vor dem Gerichtshof angefochten und daher die Nichtigerklärung der beiden Beschlüsse des Rates beantragt.
Die Große Kammer des Gerichtshofs erklärt die Beschlüsse 2020/245 und 2020/246 des Rates für nichtig. Der Gerichtshof entscheidet, dass das Partnerschaftsabkommen zwar gewisse Bezüge zur GASP aufweist, jedoch die Teile oder Absichtserklärungen, die der GASP zugeordnet werden können, nicht ausreichen, um eine eigenständige Komponente dieses Abkommens darzustellen, die es rechtfertigen würde, den Beschluss 2020/246 auf Art. 37 EUV als materielle Rechtsgrundlage und auf Art. 218 Abs. 8 Unterabs. 2 AEUV als verfahrensrechtliche Rechtsgrundlage zu stützen. Er entscheidet außerdem, dass es unter diesen Umständen durch nichts gerechtfertigt war, den Rechtsakt über den Standpunkt, der im Namen der Union in dem mit dem Partnerschaftsabkommen mit Armenien eingesetzten Partnerschaftsrat zu vertreten ist, in zwei Beschlüsse aufzuspalten.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zunächst weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Rat nach Art. 218 Abs. 8 AEUV im Allgemeinen mit qualifizierter Mehrheit und nur in den in Unterabs. 2 dieser Bestimmung genannten Fällen einstimmig beschließt. Die anwendbare Abstimmungsregel ist daher in jedem Einzelfall danach zu bestimmen, ob sie zu den in Art. 218 Abs. 8 Unterabs. 2 AEUV vorgesehenen Fällen gehört oder nicht, wobei sich die Wahl der materiellen Rechtsgrundlage des betreffenden Beschlusses auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen muss, wozu die Zielsetzung und der Inhalt des Rechtsakts gehören.
Ergibt die Prüfung eines Unionsrechtsakts, dass er zwei Zielsetzungen hat oder zwei Komponenten umfasst, und lässt sich eine von ihnen als die hauptsächliche oder überwiegende ausmachen, während die andere nur nebensächliche Bedeutung hat, ist der Rechtsakt nur auf eine einzige Rechtsgrundlage zu stützen, und zwar auf diejenige, die die hauptsächliche oder überwiegende Zielsetzung oder Komponente erfordert. Im vorliegenden Fall betreffen die angefochtenen Beschlüsse zwar formal verschiedene Titel des Partnerschaftsabkommens, doch sind der Bereich, zu dem sie gehören, und damit die Rechtsgrundlage für das betreffende auswärtige Handeln der Union mit Blick auf das Abkommen als Ganzes zu beurteilen, denn diese Beschlüsse betreffen allgemein die Arbeitsweise der auf der Grundlage des Partnerschaftsabkommens mit Armenien gegründeten internationalen Gremien. Im Übrigen kann der Erlass von zwei getrennten, auf unterschiedliche Rechtsgrundlagen gestützten Beschlüssen des Rates, die aber den einheitlichen Standpunkt festlegen sollen, der im Namen der Union zur Arbeitsweise der durch dieses Abkommen eingesetzten Gremien eingenommen werden soll, nur dann gerechtfertigt sein, wenn das Abkommen – als Ganzes betrachtet – eigenständige Komponenten aufweist, die den für den Erlass dieser Rechtsakte herangezogenen unterschiedlichen Rechtsgrundlagen entsprechen.
Die Einordnung eines Abkommens als Abkommen auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit hat in Ansehung seines wesentlichen Gegenstands und nicht anhand einzelner Bestimmungen zu erfolgen. Auch wenn einige Bestimmungen von Titel II des Partnerschaftsabkommens mit Armenien Themen betreffen, die unter die GASP fallen können, und darin die Bereitschaft der Vertragsparteien bekräftigt wird, in diesem Bereich zusammenzuarbeiten, gibt es im Abkommen nicht viele solcher Bestimmungen, und sie beschränken sich im Wesentlichen auf programmatische Erklärungen, die nur die zwischen den Vertragsparteien bestehenden Beziehungen und ihre gemeinsamen Absichten für die Zukunft beschreiben.
Sodann stellt der Gerichtshof zu den Zielsetzungen des Abkommens fest, dass mit ihm hauptsächlich der Rahmen für die Zusammenarbeit mit Armenien in den Bereichen Verkehr, Handel und Entwicklung geschaffen werden soll. Dabei käme es einer Aushöhlung der Zuständigkeit und des Verfahrens, die in Art. 208 AEUV vorgesehen sind, gleich, wollte man verlangen, dass ein Abkommen über die Entwicklungszusammenarbeit immer dann, wenn es einen besonderen Bereich berührt, zusätzlich auf eine andere als die diese Politik betreffende Vorschrift gestützt werden müsste. Im vorliegenden Fall können zwar einige der speziellen Ziele zur Intensivierung des politischen Dialogs der GASP zugeordnet werden, doch ist die Aufzählung dieser speziellen Ziele nicht mit einem Aktionsprogramm oder konkreten Modalitäten der Zusammenarbeit verbunden, aus denen abgeleitet werden könnte, dass die GASP neben den Aspekten, die mit dem Handel und der Entwicklungszusammenarbeit zusammenhängen, eine der eigenständigen Komponenten dieses Abkommens darstellt.
Schließlich kann zwar auch der Kontext eines Rechtsakts, wie im vorliegenden Fall der Konflikt um Bergkarabach, bei der Bestimmung der Rechtsgrundlage des Rechtsakts berücksichtigt werden, doch sieht das Partnerschaftsabkommen mit Armenien keine konkrete oder spezielle Maßnahme zur Bewältigung dieser – die internationale Sicherheit tangierenden – Situation vor.
Nach alledem erklärt der Gerichtshof den Beschluss 2020/246 für nichtig, weil er fälschlicherweise auf Art. 37 EUV als materielle Rechtsgrundlage gestützt wurde. Auch der Beschluss 2020/245 wird vom Gerichtshof für nichtig erklärt. Wie aus dem zehnten Erwägungsgrund und Art. 1 dieses Beschlusses hervorgeht, betrifft er nicht den Standpunkt, der im Namen der Union in dem mit dem Partnerschaftsabkommen mit Armenien eingesetzten Partnerschaftsrat zu vertreten ist, soweit sich dieser Standpunkt auf die Anwendung von Titel II dieses Abkommens bezieht. Die Bestimmungen dieses Titels stellen jedoch keine eigenständige Komponente des Abkommens dar, die den Rat verpflichten würde, sich zur Festlegung dieses Standpunkts u. a. auf Art. 37 EUV und Art. 218 Abs. 8 Unterabs. 2 AEUV zu stützen. Es war somit durch nichts gerechtfertigt, dass der Rat den Standpunkt bezüglich der Anwendung von Titel II des Abkommens vom Gegenstand des Beschlusses 2020/245 ausgenommen und einen gesonderten Beschluss nach Art. 218 Abs. 9 AEUV erlassen hat, der die Festlegung des Standpunkts bezüglich der Anwendung von Titel II des Abkommens zum Gegenstand hat.
Der Gerichtshof entscheidet allerdings im Interesse der Rechtssicherheit, die Wirkungen der für nichtig erklärten Beschlüsse aufrechtzuerhalten, bis der Rat einen mit dem Urteil im Einklang stehenden neuen Beschluss erlassen hat.
1 Beschluss (EU) 2018/104 über die Unterzeichnung, im Namen der Union, und die vorläufige Anwendung des Abkommens über eine umfassende und verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Armenien andererseits (ABl. 2018, L 23, S. 1).
2 Beschluss (EU) 2020/245 des Rates vom 17. Februar 2020 zur Festlegung des Standpunkts, der im Namen der Europäischen Union in dem mit dem Abkommen über eine umfassende und verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Armenien andererseits eingesetzten Partnerschaftsrat zur Annahme der Geschäftsordnungen des Partnerschaftsrates, des Partnerschaftsausschusses und der durch den Partnerschaftsrat eingesetzten Unterausschüsse und sonstigen Gremien sowie zur Erstellung der Liste der Unterausschüsse für die Anwendung des Abkommens mit Ausnahme seines Titels II zu vertreten ist (ABl. 2020, L 52, S. 3).
3 Beschluss (EU) 2020/246 des Rates vom 17. Februar 2020 zur Festlegung des Standpunkts, der im Namen der Europäischen Union in dem mit dem Abkommen über eine umfassende und verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Armenien andererseits eingesetzten Partnerschaftsrat zur Annahme der Geschäftsordnungen des Partnerschaftsrates, des Partnerschaftsausschusses und der durch den Partnerschaftsrat eingesetzten Unterausschüsse und sonstigen Gremien sowie zur Erstellung der Liste der Unterausschüsse für die Anwendung des Titels II des Abkommens zu vertreten ist (ABl. 2020, L 52, S. 5).