Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 30. März 2021 zum Aktenzeichen 1 BvR 160/19 entschieden, dass die zivilrechtliche Verurteilung zum Schadensersatz bei Beschädigung eines Familiengrabes nicht verfassungswidrig ist.
Bei der Grabstätte auf der Insel Frauenchiemsee handelt es sich um das Grab der Familie eines im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zum Tode verurteilten und hingerichteten hochrangigen Militärs. Dieser ist in dem Familiengrab zwar selbst nicht beerdigt, sein Name, Dienstgrad und Lebensdaten sind jedoch auf einem der Grabsteine angebracht, der die Form eines Steinkreuzes hat.
Der Beschwerdeführer brachte im Jahr 2015 an dem Grabkreuz mit einem silikonartigen Kleber ein Schild mit der Aufschrift „Keine Ehre dem Kriegsverbrecher“ an. Dieses Schild wurde von Angestellten der örtlichen Gemeinde entfernt und dem Kläger des Ausgangsverfahrens dafür ein Betrag in Höhe von 84,00 Euro in Rechnung gestellt. Für die Entfernung des Klebers durch einen Steinmetz wurden dem Kläger zusätzlich Kosten in Höhe von 389,13 Euro berechnet. Beide Beträge wurden von diesem bezahlt. Der Kläger des Ausgangsverfahrens erstattete Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer.
Der Beschwerdeführer kündigte per E-Mail weitere Aktionen an, wenn das Steinkreuz nicht in einer bestimmten Art und Weise umgestaltet werde. In der Folge entfernte er den metallenen Anfangsbuchstaben des Nachnamens aus der Namensaufschrift auf dem Steinkreuz. Dabei brach er die Verankerung der Schrift aus dem Grabstein heraus und beschädigte den Buchstaben und die Substanz des Steins durch Aufplatzungen. Im Juli 2016 brachte der Beschwerdeführer erneut ein Schild an dem Kreuz an und übergoss die Aufschrift auf dem Kreuz mit roter Farbe.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens ließ den Schriftzug in Stand setzen und die rote Farbe entfernen. Hierfür wurden dem Kläger des Ausgangsverfahrens 722,33 Euro in Rechnung gestellt und von diesem bezahlt. Im September 2016 brachte der Beschwerdeführer erneut rote Farbe an und schrieb damit „Kriegsverbrecher“ auf das Kreuz. Für die Beseitigung wurden dem Kläger des Ausgangsverfahrens 2.822,68 Euro in Rechnung gestellt und von diesem bezahlt.
Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer zur Zahlung von 4.088,34 Euro nebst Zinsen. Das Landgericht wies die dagegen gerichtete Berufung des Beschwerdeführers zurück.
Zur Begründung führten die Gerichte im Wesentlichen aus, das Anbringen einer Tafel an dem Kreuz, das Entfernen des Buchstabens und das zweimalige Anbringen roter Farbe stellten jeweils Eigentumsverletzungen durch die Verletzung der körperlichen Integrität der Sache dar. Die Substanzverletzung an dem Steinkreuz durch den Beschwerdeführer führe dazu, dass dieses nicht mehr als Grabstein nutzbar sei. Diese Handlungen seien vorsätzlich und widerrechtlich erfolgt.
Das Kreuz selbst erfülle den Tatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 StGB nicht. Für die Beseitigung eines gegebenenfalls rechtswidrigen oder strafbaren Zustands der Grabstätte seien zudem ausschließlich die jeweiligen Behörden zuständig. Der Beschwerdeführer habe kein Recht darauf, durch Eingriffe in fremdes Eigentum an deren Stelle selbst aktiv zu werden.
Die Eigentumsverletzung sei auch nicht unter Berücksichtigung der Meinungs- und Kunstfreiheit im Sinne des Art. 5 GG gerechtfertigt. Die Absicht des Beschwerdeführers, die Beseitigung des Steinkreuzes durch den Kläger des Ausgangsverfahrens zu erzwingen, sei nicht mehr dem künstlerischen Bereich zuzuordnen. Nach der gebotenen Abwägung der kollidierenden Interessen der Parteien trete das Recht des Beschwerdeführers auf Kunst- und Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 und 3 GG hinter dem Interesse des Klägers des Ausgangsverfahrens am Schutz seines Eigentums aus Art. 14 Abs. 1 GG zurück. Ein tragfähiger Rechtfertigungsgrund für die Eingriffe in die Sachsubstanz des Grabes und des Kreuzes sowie solche Veränderungen von dessen äußerem Erscheinungsbild, die nur schwer oder mit erheblichem Aufwand wieder rückgängig zu machen seien, sei nicht ersichtlich. Kunstspezifische Gesichtspunkte seien grundsätzlich zu berücksichtigen, würden vom Beschwerdeführer aber nicht aufgezeigt.
Der Eigentümer müsse nicht hinnehmen, dass sein Eigentum als Trägermedium für künstlerische Aussagen oder Meinungsäußerungen benutzt werde. Durch das Unterlassen derartiger Handlungen würden dem Beschwerdeführer nicht sämtliche Möglichkeiten entzogen, auf den aus seiner Sicht nicht hinzunehmenden Missstand künstlerisch hinzuweisen, dass mit dem Kreuz eines Kriegsverbrechers gedacht werde. Dies sei ihm auch zumutbar. Die Wertentscheidungen des Gesetzgebers aus § 303 StGB und § 823 BGB, durch die das Eigentum geschützt werde, seien zu berücksichtigen.
Der Beschwerdeführer sieht sich insbesondere in seiner Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Var. 1 GG verletzt. In den angegriffenen Entscheidungen werde eine Grundrechtsabwägung nur ganz am Rande vorgenommen und das Grundrecht auf Eigentum einseitig als höherrangig behandelt. Das „Kenotaph“ stelle eine unerträgliche politische Geschmacklosigkeit mit dem Charakter einer Volksverhetzung dar. Der Beschwerdeführer sei nur durch Eingriff in die Substanz des Grabkreuzes in der Lage gewesen, auf die „schlechterdings unerträgliche öffentliche Ehrung eines Kriegsverbrechers und Massenmörders“ hinzuweisen.
Der Beschwerdeführer trägt nicht vor und es ist auch nicht erkennbar, dass ‒ jenseits der plakativen Meinungsäußerung ‒ eine freie schöpferische Gestaltung vorliegt, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zur Anschauung gebracht würden. Daran ändert auch nichts, dass sich der Beschwerdeführer selbst als „engagierter Künstler“ bezeichnet. Seine Aktionen stellen sich nicht im vorbezeichneten Sinne als interpretationsoffen dar, sondern reduzieren sich auf eine abgeschlossene Aussage.
Bei der Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Vorschrift des § 823 Abs. 1, § 249 BGB ‒ insbesondere beim Merkmal der Rechtswidrigkeit ‒ haben das Amts- und das Landgericht im Übrigen der Bedeutung und Tragweite der Kunstfreiheit des Beschwerdeführers jedenfalls hinreichend Rechnung getragen.
Auch wenn die Parteien in einem Zivilrechtsstreit, in dem es um den Konflikt von Kunstfreiheit und Sacheigentum geht, um grundrechtlich geschützte Positionen streiten, handelt es sich um einen Rechtsstreit zwischen privaten Parteien, zu dessen Entscheidung in erster Linie die Zivilgerichte berufen sind. Sind bei der Auslegung und Anwendung einfachrechtlicher Normen mehrere Deutungen möglich, so verdient diejenige den Vorzug, die den Wertentscheidungen der Verfassung entspricht und die die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung bringt. Der Einfluss der Grundrechte auf die Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Normen ist nicht auf Generalklauseln beschränkt, sondern erstreckt sich auf alle auslegungsfähigen und -bedürftigen Tatbestandsmerkmale der zivilrechtlichen Vorschriften.
Dabei gibt das Grundgesetz den Zivilgerichten regelmäßig keine bestimmte Entscheidung vor. Die Schwelle eines Verstoßes gegen Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, ist erst dann erreicht, wenn die Auslegung der Zivilgerichte Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Grundrechte beruhen, insbesondere vom Umfang ihres Schutzbereichs, und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind, insbesondere weil darunter die Abwägung der beiderseitigen Rechtspositionen im Rahmen der privatrechtlichen Regelung leidet.
Die Kunstfreiheit ist in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Var. 1 GG zwar vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos gewährleistet. Die Schranken ergeben sich insbesondere aus den Grundrechten anderer Rechtsträger, aber auch aus sonstigen Rechtsgütern mit Verfassungsrang. Das durch Art. 14 GG geschützte (Sach)eigentum ist ebenfalls als Schranke der Kunstfreiheit mit ihr in praktischer Konkordanz in Einklang zu bringen.
Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erstreckt sich die Reichweite der Kunstfreiheit auch auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung. Ein prinzipieller Vorrang der Eigentumsgarantie vor der Gewährleistung der Kunstfreiheit lässt sich – wie auch umgekehrt ein prinzipieller Vorrang der Kunstfreiheit vor dem Eigentum – aus der Verfassung nicht herleiten. Jedes künstlerische Wirken bewegt sich jedoch zunächst im Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, gleich wie und wo es stattfindet. Ob die Kunstfreiheit dann wegen der Beeinträchtigung insbesondere von Grundrechten Dritter zurücktreten muss, ist erst anschließend zu entscheiden.
Gerade wenn man den Begriff der Kunst im Interesse des Schutzes künstlerischer Selbstbestimmung weit fasst und nicht versucht, mit Hilfe eines engen Kunstbegriffs künstlerische Ausdrucksformen, die in Konflikt mit den Rechten anderer kommen, von vornherein vom Grundrechtsschutz der Kunstfreiheit auszuschließen, und wenn man nicht nur den Werkbereich, sondern auch den Wirkbereich in den Schutz einbezieht, dann muss sichergestellt sein, dass Personen, die durch Künstler in ihren Rechten beeinträchtigt werden, ihre Rechte auch verteidigen können und in diesen Rechten auch unter Berücksichtigung der Kunstfreiheit einen wirksamen Schutz erfahren. In dieser Situation sind die staatlichen Gerichte den Grundrechten beider Seiten gleichermaßen verpflichtet. Auf private Klagen hin erfolgende Eingriffe in die Kunstfreiheit stellen sich nicht als staatliche „Kunstzensur“ dar, sondern sind darauf zu überprüfen, ob sie den Grundrechten von Künstlern und der durch das Kunstwerk Betroffenen gleichermaßen gerecht werden.
Gerät die Kunstfreiheit mit einem anderen Recht von Verfassungsrang in Widerstreit, müssen beide mit dem Ziel der Optimierung zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden. Dabei kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu (vgl. BVerfGE 30, 173 <199>). Die Zivilgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung des Bürgerlichen Rechts die im Gesetz zum Ausdruck kommende Interessenabwägung zwischen dem Eigentumsschutz und den damit konkurrierenden Grundrechtspositionen nachzuvollziehen und dabei unverhältnismäßige Grundrechtsbeschränkungen zu vermeiden.
Nach diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer nicht in seinem Recht auf künstlerische Betätigungsfreiheit.
Die Gerichte haben die Intention des Beschwerdeführers, bei der Inanspruchnahme fremden Eigentums für seine künstlerische Betätigung auf einen als unerträglich empfundenen Missstand aufmerksam zu machen, bei der Gewichtung der widerstreitenden Belange berücksichtigt. Zugunsten des Eigentümers fiel insbesondere ins Gewicht, dass der Eigentumseingriff durch Beeinträchtigung der Sachsubstanz von hoher Intensität war. Die Nutzbarkeit des Grabsteins in eben dieser Funktion wurde durch Beschädigungen und die Einfärbung stark beeinträchtigt. Demgegenüber stehen dem Beschwerdeführer andere Möglichkeiten zur Verfügung, künstlerisch auf sein Missfallen aufmerksam zu machen, ohne fremdes Eigentum zu beschädigen.
Das Fachrecht ‒ hier das Eigentumsrecht an beweglichen Sachen ‒ nimmt bereits eine Abwägung der widerstreitenden Interessen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit vor. Unter den Voraussetzungen des § 950 BGB kann ein Künstler Eigentum an den von ihm verarbeiteten oder umgestalteten Materialien erwerben, muss jedoch Entschädigung für den Eigentumsverlust an den ursprünglichen Eigentümer leisten, § 951 BGB. Eine neue Sache entsteht indes nicht, wenn eine andere Sache lediglich zerstört wird. Dieses austarierte System des Sachenrechts stellt eine angemessene Lösung dar. Die Kunstfreiheit vermag daher im Regelfall die Benutzung fremden Eigentums nicht zu rechtfertigen, das gilt erst recht für die entschädigungslose Beschädigung.
Aus der „Sampling“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich keine abweichende Beurteilung. Die Wertungen aus der spezifisch urheberrechtlichen Konstellation bezüglich des Konfliktes zwischen Kunstfreiheit und Geistigem Eigentum lassen sich auf den vorliegenden Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Sacheigentum schon nicht ohne Weiteres übertragen. Steht der künstlerischen Entfaltungsfreiheit ein Eingriff in die Urheberrechte gegenüber, der die Verwertungsmöglichkeiten nur geringfügig beschränkt, so können die Verwertungsinteressen der Urheberrechtsinhaber zugunsten der Freiheit der künstlerischen Auseinandersetzung zurückzutreten haben. Hierfür kann der Gesetzgeber einen finanziellen Ausgleich vorsehen, muss dies aber nicht tun, solange dem Urheber ein angemessenes Entgelt für seine Leistung verbleibt. Auch die Zulässigkeit einer freien Benutzung zu künstlerischen Zwecken ist aber nicht gleichbedeutend mit der generellen Zulässigkeit einer erlaubnis- und vergütungsfreien Nutzung.
Hier handelt es sich aber nicht um eine dem „Sampling“ vergleichbare, nur geringfügige Beeinträchtigung, sondern um eine wiederholte Beschädigung des Grabsteins in seiner Substanz. Anders als beim Geistigen Eigentum, das regelmäßig vervielfältigt werden kann, wird das Sacheigentum einer einzelnen Sache in der Substanz betroffen. Umgekehrt wird die künstlerische Betätigungsfreiheit des Beschwerdeführers und damit auch die kulturelle Fortentwicklung nur geringfügig eingeschränkt, wenn er seine Kritik am Epitaph für einen im Nürnberger Prozess vom Internationalen Militärgerichtshof verurteilten Hauptkriegsverbrecher mit künstlerischen Mitteln ohne Substanzbeeinträchtigung am Grabstein äußern und für eventuelle Beschädigungen haften muss.