Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 09.06.2022 zum Aktenzeichen 8 Sa 362/21 entschieden, dass bei der Ermittlung der für die Verpflichtung zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige maßgeblichen Schwellenwerte gem. § 17 Abs. 1 KSchG nach Auflösung der betrieblichen Strukturen auf die letzte aktive Betriebsstätte abzustellen ist. Wird der Schwellenwert gemäß § 17 Abs. 1 S 1 KSchG nicht erreicht, besteht auch keine Verpflichtung zur Durchführung eines Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 KSchG.
Die Kündigung ist nicht nach § 134 BGB i.V.m. § 17 Abs. 1 KSchG unwirksam, weil es der Beklagte unterlassen hat, für die ursprünglich der Station K zugeordneten Arbeitnehmer eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten; denn an der Station K ist mit neun geplanten Entlassungen der Schwellenwert des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG nicht erreicht worden.
Die Anzeige- und Konsultationspflichten des Arbeitgebers nach § 17 Abs. 1 bis Abs. 3 KSchG knüpfen ebenso wie Art. 1 Abs. 1 Buchst. a Unterabs. I MERL, auf dessen Umsetzung § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG gerichtet ist, an den Betrieb an. Zentraler Bezugspunkt des Massenentlassungsschutzes ist damit der Betriebsbegriff. Dieser unionsrechtliche Begriff des Betriebs ist dahingehend auszulegen, dass er nach Maßgabe der Umstände die Einheit bezeichnet, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören. Es muss sich um eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität handeln, die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt. Nicht erforderlich für eine Qualifizierung als „Betrieb“ im Sinne der MERL ist, dass die Einheit eine rechtliche, wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologischen Autonomie besitzt. Die Einheit muss auch keine Leitung haben, die selbstständig Massenentlassungen vornehmen kann. Vielmehr reicht es aus, wenn eine Leitung besteht, die die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Kontrolle des Gesamtbetriebs der Einrichtungen der Einheit sowie die Lösung technischer Probleme im Sinne einer Aufgabenkoordinierung sicherstellt.
Von diesen Grundsätzen ausgehend hat das Bundesarbeitsgericht im Rahmen der Kündigungsschutzklage des Klägers betreffend die Kündigung vom 28.11.2017 entschieden, dass die Station des Schuldnerin am Flughafen K den für den Kläger maßgeblichen Betrieb in Sinne der MERL und damit i.S.v. § 17 KSchG darstellt. Denn die Station K sei nicht nur vorübergehend eingerichtet, sei zur Erledigung einer oder mehrerer Aufgaben – nämlich zur Ermöglichung des Flugbetriebs der Schuldnerin an diesem Flughafen – bestimmt und verfüge über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern im Sinne der Begriffsbestimmung des Gerichtshofs; die im Rahmen des Masseentlassungsschutzes erforderliche Verbindung zum jeweiligen Stationierungsort sei beim fliegerischen Personal gegeben. Die Station K verfüge auch über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung ihrer Aufgaben, einschließlich einer örtlichen Leitung, für das Cockpitpersonal in Person der Area Managers Cockpit.
An der für den Kläger hinsichtlich des Massenentlassungsschutzes maßgeblichen betrieblichen Einheit, nämlich der Station K , hat sich für die hier streitgegenständliche Kündigung keine Änderung ergeben.
Soweit der Kläger der Ansicht ist, es komme in dem Fall, dass ein Betrieb durch Stilllegung bereits untergegangen sei und hiernach vorsorglich neuerliche Kündigungen ausgesprochen würden nicht mehr auf die vormaligen betrieblichen Strukturen an, sondern es sei von einem einheitlichen Betrieb am Ort des Betriebs- bzw. Unternehmenssitzes auszugehen, folgt dem die Kammer nicht. Vielmehr waren ihrer Auffassung nach – den Ausführungen der 12. und 13. Kammer des LAG Düsseldorf sowie des LAG Berlin-Brandenburg folgend – auch nach erfolgter Stilllegung des Flugbetriebs und der damit einhergehenden Auflösung der betrieblichen Strukturen weiterhin die einzelnen Stationen die für den Massenentlassungsschutz maßgeblichen Betriebe i.S.d. MERL.
Organisatorische Einheiten, die den Betriebsbegriff i.S.d. MERL erfüllt hätten, bestanden zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Kündigung bei dem Beklagten nicht mehr. Denn weder an den ehemaligen Stationen noch in B waren noch Einheiten von gewisser Stabilität vorhanden, die mit einer Gesamtheit von Arbeitnehmern Aufgaben erledigte, zu deren Erfüllung ihr technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Verfügung stand. Weder hat der Beklagte nach der Stilllegung des Flugbetriebs einen dementsprechend „Gesamtbetrieb“ in B gebildet und diesem die noch nicht rechtskräftig beendeten Arbeitsverhältnisse zugeordnet, noch hat sich ein solcher Gesamtbetrieb in B „automatisch“ durch den Untergang der einzelnen Stationen ergeben. Ohne das Vorliegen jeglicher Merkmale eines Betriebs i.S.d. MERL entbehrt aber auch die Annahme des Klägers, in B habe sich ein Gesamtbetrieb gebildet, dem alle verbliebenen Arbeitnehmer zuzuordnen seien, einer Grundlage.
Die Annahme eines am gesellschaftsrechtlichen Sitz des Unternehmens verorteten Gesamtbetriebs ist auch nicht als „Auffanglösung“ für den Fall geboten, dass eine Stilllegung bereits erfolgt ist und die betrieblichen Strukturen aufgelöst sind. Vielmehr ist es sachgerecht, für die Ermittlung des Betriebsbegriffs – der sowohl für die Berechnung der Schwellenwerte als auch die örtliche Zuständigkeit der Agentur für Arbeit maßgeblich ist – auf die letzten aktiven Betriebsstrukturen abzustellen. Das Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen soll helfen, die sozioökonomischen Auswirkungen von Massenentlassungen dort zu mildern, wo sie typischerweise auftreten. Typischerweise sind die stärksten sozioökonomischen Auswirkungen einer Massenentlassung auch nach einer Auflösung der betrieblichen Strukturen am letzten feststellbaren Betrieb, dem die Arbeitnehmer zugeordnet waren, anzunehmen. Zwar mögen sich von einer Massenentlassung betroffene Arbeitnehmer nach der Stilllegung auch örtlich verändern. Dennoch werden bei einer typisierenden Betrachtungsweise die größten sozioökonomischen Auswirkungen nach wie vor am Ort des letzten aktiven Betriebs i.S.d. MERL auftreten. Für die Annahme größerer sozialökonomischer Auswirkungen der Massenentlassung an einem anderen Ort, insbesondere am gesellschaftsrechtlichen Sitz des Unternehmens, besteht keine Grundlage.
Dafür, bei der Ermittlung des Betriebsbegriffs auf die letzte aktive Betriebsstätte abzustellen spricht auch, dass der Kläger bereits durch die vorangegangene – wenn auch unwirksame – Kündigung vom 28.11.2017 arbeitssuchend geworden war. Für einen Wechsel der Betreuungszuständigkeit auf Grund der Aussprache einer zweiten Kündigung von der Agentur für Arbeit K zur Agentur für Arbeit K – ohne dass der Kläger zwischenzeitlich einem Betrieb im Zuständigkeitsbereich der Agentur für Arbeit B zugeordnet worden wäre – ist kein Grund ersichtlich.