Nach einem Gesetzgebungsverfahren über 3 Jahren ist das Gesetz zum Verbot geschlechtszuweisender Operationen an intergeschlechtlichen Kindern in Kraft getreten.
Ab den 1960er Jahren wurden bei Kindern mit nicht eindeutig bestimmbarem Geschlecht häufig bereits im Neugeborenenalter geschlechtsangleichende Operationen durchgeführt.
Diese Eingriffe wurden zumeist ohne wirksame Einwilligung der Eltern, insbesondere ohne hinreichende Aufklärung über die mit diesen Eingriffen einhergehenden Risiken und medizinisch notwendigen Folgebehandlungen durchgeführt sowie oftmals auch ohne zwingende medizinische Indikation.
Dies stand im Widerspruch zu der Bedeutung dieser Maßnahmen als irreversible Eingriffe in den Kernbereich der persönlichen Identität und der körperlichen Unversehrtheit.
§ 1631e BGB lautet:
Behandlung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung
(1) Die Personensorge umfasst nicht das Recht, in eine Behandlung eines nicht einwilligungsfähigen Kindes mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung einzuwilligen oder selbst diese Behandlung durchzuführen, die, ohne dass ein weiterer Grund für die Behandlung hinzutritt, allein in der Absicht erfolgt, das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an das des männlichen oder des weiblichen Geschlechts anzugleichen.
(2) In operative Eingriffe an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen des nicht einwilligungsfähigen Kindes mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung, die eine Angleichung des körperlichen Erscheinungsbilds des Kindes an das des männlichen oder des weiblichen Geschlechts zur Folge haben könnten und für die nicht bereits nach Absatz 1 die Einwilligungsbefugnis fehlt, können die Eltern nur einwilligen, wenn der Eingriff nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden kann. § 1909 ist nicht anzuwenden.
(3) Die Einwilligung nach Absatz 2 Satz 1 bedarf der Genehmigung des Familiengerichts, es sei denn, der operative Eingriff ist zur Abwehr einer Gefahr für das Leben oder für die Gesundheit des Kindes erforderlich und kann nicht bis zur Erteilung der Genehmigung aufgeschoben werden. Die Genehmigung ist auf Antrag der Eltern zu erteilen, wenn der geplante Eingriff dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Legen die Eltern dem Familiengericht eine den Eingriff befürwortende Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission nach Absatz 4 vor, wird vermutet, dass der geplante Eingriff dem Wohl des Kindes am besten entspricht.
(4) Einer interdisziplinären Kommission sollen zumindest die folgenden Personen angehören:
1. der das Kind Behandelnde gemäß § 630a,
2. mindestens eine weitere ärztliche Person,
3. eine Person, die über eine psychologische, kinder- und jugendlichenpsychotherapeutische oder kinder- und jugendpsychiatrische Berufsqualifikation verfügt, und
4. eine in Ethik aus-, weiter- oder fortgebildete Person.
Die ärztlichen Kommissionsmitglieder müssen unterschiedliche kinderheilkundliche Spezialisierungen aufweisen. Unter ihnen muss ein Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Kinderendokrinologie und -diabetologie sein. Ein Kommissionsmitglied nach Satz 1 Nummer 2 darf nicht in der Einrichtung der medizinischen Versorgung beschäftigt sein, in der der operative Eingriff durchgeführt werden soll. Sämtliche Kommissionsmitglieder müssen Erfahrung im Umgang mit Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung haben. Auf Wunsch der Eltern soll die Kommission eine Beratungsperson mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung beteiligen.
(5) Die den operativen Eingriff nach Absatz 2 Satz 1 befürwortende Stellungnahme der interdisziplinären Kommission hat insbesondere folgende Angaben zu enthalten:
1. die Bezeichnung der Mitglieder der Kommission und Informationen zu ihrer Befähigung,
2. das Alter des Kindes und ob und welche Variante der Geschlechtsentwicklung es aufweist,
3. die Bezeichnung des geplanten Eingriffs und welche Indikation für diesen besteht,
4. warum die Kommission den Eingriff unter Berücksichtigung des Kindeswohls befürwortet und ob er aus ihrer Sicht dem Wohl des Kindes am besten entspricht, insbesondere welche Risiken mit diesem Eingriff, mit einer anderen Behandlung oder mit dem Verzicht auf einen Eingriff bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes verbunden sind,
5. ob und durch welche Kommissionsmitglieder ein Gespräch mit den Eltern und dem Kind geführt wurde und ob und durch welche Kommissionsmitglieder die Eltern und das Kind zum Umgang mit dieser Variante der Geschlechtsentwicklung aufgeklärt und beraten wurden,
6. ob eine Beratung der Eltern und des Kindes durch eine Beratungsperson mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung stattgefunden hat,
7. inwieweit das Kind in der Lage ist, sich eine Meinung zu bilden und zu äußern und ob der geplante Eingriff seinem Willen entspricht, sowie
8. ob die nach Absatz 4 Satz 6 beteiligte Beratungsperson mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung die befürwortende Stellungnahme mitträgt.
Die Stellungnahme muss von allen Mitgliedern der interdisziplinären Kommission unterschrieben sein.
(6) Der Behandelnde gemäß § 630a hat, wenn eine Behandlung an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen erfolgt ist, die Patientenakte bis zu dem Tag aufzubewahren, an dem die behandelte Person ihr 48. Lebensjahr vollendet.
Das Oberlandesgericht Köln hat im Beschluss vom 03.09.2008 zum Aktenzeichen 5 U 51/08 ebenso wie das Landgericht Nürnberg-Fürth im Urteil vom 17.12.2015 zum Aktenzeichen 4 O 7000/11 entschieden, dass operative Eingriffe an intergeschlechtlichen Menschen mangels wirksamer Einwilligung rechtswidrig sind, wenn nicht ausreichend aufgeklärt wurde.
Die Humboldt-Universität zu Berlin weist in ihrer Stellungnahme zum neuen Gesetz darauf hin, dass seit den 1990er Jahren Organisationen intergeschlechtlicher Menschen medizinische Behandlungen kritisieren, die der Anpassung von Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale an ein normatives weibliches oder männliches Erscheinungsbild dienen und in die die Betroffenen nicht selbst und auf Grundlage umfassender Aufklärung eingewilligt haben, als Verstoß gegen elementare Menschenrechte. Inzwischen sind viele Berichte Betroffener über gravierende Folgen solcher Eingriffe für die Funktionalität, Empfindsamkeit und das Aussehen der Geschlechtsorgane sowie über Traumatisierungen durch das Behandlungssetting publik geworden. Internationale menschenrechtliche Gremien haben die Bundesregierung wiederholt gerügt, die Betroffenen nicht wirksam vor dieser menschenrechtswidrigen Praxis zu schützen. Den Protesten und den Rügen ist es zu verdanken, dass sich seit einigen Jahren ein Teil der Ärzteschaft um einen Paradigmenwechsel im medizinischen Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen bemüht, was insbesondere in der im Juli 2016 veröffentlichten „S2k-Leitlinie 174/001: Varianten der Geschlechtsentwicklung“ zum Ausdruck gekommen ist.4Allerdings sind medizinische Leitlinien nicht bindend. Feminisierende und maskulinisierende Operationen an Kindern unter 10 Jahren waren bis Ende 2016 nicht rückläufig. Eine aktuelle Datenabfrage beim „Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes“ für die Operationsprozeduren „Operationen an der Klitoris“ (OPS 5-713) und „Konstruktion und Rekonstruktion der Vagina“ (OPS 5-705) zeigt, dass selbst solche besonders umstrittenen Eingriffe auch noch in den Jahren 2017 und 2018 durchgeführt wurden, und zwar überwiegend in vier Bundesländern (s. Diagramme 1 & 2 im Anhang). Das spricht dafür, dass auch noch nach Herausgabe der S2k-Leitlinie 174/001 zumindest in manchen Bundesländern chirurgische Anpassungen an das weibliche oder männliche Erscheinungsbild allein aus psychosozialen (oder auch: psychiatrischen) Gründen vorgenommen werden und nicht etwa, um eine erhebliche körperliche Gesundheitsgefahr abzuwenden. Der Schutz der geschlechtlichen Selbstbestimmung und körperlichen Unversehrtheit intergeschlechtlicher Kinder – und im weiteren Sinne: aller Kinder mit einer angeborenen Variation der Geschlechtsmerkmale – muss endlich rechtswirksam sichergestellt werden. Dazu ist der Gesetzentwurf ein Schritt in die richtige Richtung. Aber es besteht Nachbesserungsbedarf.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte weist in seiner Stellungnahme zum Gesetz darauf hin, dass das Ziel verfolgt wird, entsprechend den Verabredungen im Koalitionsvertrag ein Verbot zielgerichteter geschlechtsangleichender Behandlungen von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung zu regeln. Er stellt dabei den Schutz des Kindes auf geschlechtliche Selbstbestimmung in den Mittelpunkt und regelt, dass Eltern „[…] nur dann in einen operativen Eingriff an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen ihres Kindes, der eine Angleichung des körperlichen Erscheinungsbildes des Kindes an das des männlichen oder weiblichen Geschlechts zur Folge haben könnte, einwilligen können, wenn der Eingriff nicht bis zu einer späteren selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden kann.“1Die Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte begrüßt die Ziele des Gesetzentwurfes ausdrücklich und würdigt an dieser Stelle die aus kinderrechtlicher Perspektive positiven Veränderungen, die der Gesetzentwurf seit Vorlage des Referentenentwurfes vom Februar 2020 durchlaufen hat.2Dennoch besteht aus Sicht der Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention hinsichtlich einiger, weniger Aspekte Nachbesserungsbedarf, die im Folgenden ausgeführt werden. Grundsätzlich vorangestellt werden muss an dieser Stelle, dass vor dem Hintergrund des im Gesetzentwurf besonders betonten Schutz des Rechts auf geschlechtliche Selbstbestimmung des Kindes, die fehlende Begleitung und Unterstützung bei einwilligungsfähigen Kindern im Falle einer selbstbestimmten Entscheidung ins Auge fällt.3Die UN-Kinderrechtskonvention mit ihren Grundprinzipien4ist geprägt von dem Ansatz, Kinder bei allen sie betreffenden Angelegenheiten als handelnde Akteur_innen und damit als Träger_innen von Rechten zu stärken. Die UN-Kinderrechtskonvention lässt dabei jedoch nicht die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern aufgrund eben ihres Kindseins außer Acht. Im Gegenteil, sie betont, dass es zu den Pflichten der Vertragsstaaten gehört, eben jenen besonderen Schutz für alle Kinder zu gewährleisten –gemäß Artikel 2 Absatz 1 UN-Kinderrechtskonvention unabhängig „[…] vom Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormundes.“ Es wäre daher aus einer kinderrechtlichen Perspektive geboten, allen Kindern – ganz gleich ob einwilligungsfähig oder noch nicht einwilligungsfähig –im Sinne der Wahrung des Kindeswohls (best interests of the child, gemäß Artikel 3 Absatz 1 UN-KRK) Beratung und Unterstützung zugänglich zu machen und eine umfassende Information aller betroffenen Kinder zu gewährleisten. Die Tatsache, dass in diesem Zusammenhang die Einstufung eines Kindes als einwilligungsfähig oder nicht einwilligungsfähig allein den behandelnden Ärzt_innen zugemutet wird, ist daher aus einer kinderrechtlichen Perspektive höchst bedenklich. Auch hier sollten Minimalanforderungen an eine solche Einstufung –ähnlich wie sie mittels der interdisziplinären Kommission und den Anforderungen an deren Stellungnahme hinsichtlich der Bestimmung und Ermittlung des Kindeswohlsim vorliegenden Gesetzentwurf entwickelt wurden –zum Schutze der höchstpersönlichen Rechte der betroffenen Kinder festgelegt werden.
Die Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen – OII Germany e. V. weist in der Stellungnahme zum Gesetz darauf hin, dass nicht für alle Menschen, die mit Variationen der Geschlechtsmerkmale geboren wurden, einen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen gegeben ist. Stattdessen wird die Schutzwürdigkeit auf eine bestimmte, von der Medizin definierte Gruppe eingegrenzt: Personen mit sogenannten Varianten der Geschlechtsentwicklung. Durch den im Gesetzentwurf verwendeten medizinischen Begriff „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ werden Menschen, die aus derzeitiger medizinischer Sicht nichtunter diese Definition fallen, von notwendigem Schutz ausgegrenzt. Mit der medizinischen Sprachregelung “Varianten der Geschlechtsentwicklung” werden im Gesetzentwurf Kinderbezeichnet, die “weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden konnten (Kinder mit Varianten der Geschlechtsentwicklung)”. Mit dieser Begrifflichkeit werden intergeschlechtliche Menschen medikalisiert und stigmatisiert da sie gleichgesetzt ist mit dem Begriff “DSD”. Dieser medizinische Terminus macht normativ die “Nicht-Übereinstimmung” der Geschlechtsmerkmale zum Problem. Er bezieht sich auf Personen, deren Geschlechtsmerkmale (Chromosomen, Hormone, innere und äußere Genitalien) sich nicht alle entweder eindeutig dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zuordnen lassen. Jedoch sind solche Begriffe wandelbar und können verschieden ausgelegt werden, wie die Bundesregierung in ihrer Begründung richtig feststellt. So kann je nach medizinischer Definition und Einschätzung ein Kind unter den gesetzlichen Schutz fallen oder eben nicht. Wenn die medizinischen Fachgesellschaften also beschließen sollten, dass bestimmte Phänomene und körperliche Besonderheiten nicht mehr als “Variante der Geschlechtsentwicklung” gelten, dann sind die betreffenden Kinder nicht vor nicht-lebensnotwendigen kosmetischen Genitaloperationen und weiteren Eingriffen geschützt. Darüber hinaus spart der Gesetzentwurf irreversible pränatale Dexamethasonbehandlungen an ungeborenen inter* Kindern aus. Deshalb kritisieren wir stark die Verwendung der medizinischen Begrifflichkeiten und den aus ihnen resultierenden mangelhaften Schutz vor uneingewilligten Eingriffen. Durch diese Haltung der Bundesregierung verbleibt die Definitionshoheit über intergeschlechtliche Menschen weiterhin bei der Medizin, und intergeschlechtliche Menschen jeden Alters werden weiterhin stigmatisiert. Diese Haltung bleibt weit hinter einer klaren und deutlichen Position für die Menschenrechte von intergeschlechtlichen Menschen.
Die Bundesärztekammer kritisiert in ihrer Stellungnahme die nach ihrer Auffassung nicht durch Daten belegte – Vermutung „dass auch nach der Überarbeitung medizinischer Leitlinien zur Behandlung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung noch Operationen stattfinden, die nicht unbedingt erforderlich sind.“ Mit dem Gesetz würde mit einer nicht belegten Vermutung ohne Not eine bürokratische Hürde aufgebaut, die die Behandlung der betroffenen Kinder eher erschweren denn verbessern dürfte. Zudem stellt das Verfahren vor dem Familiengericht eine weitere, unnötige Belastung der Betroffenen und ihrer Familien dar. Den Entwurf lehnt die Bundesärztekammer auch wegen des damit verbundenen Eingriffs in die ärztliche Berufsfreiheit (Art. 12 GG) ab und fordert stattdessen, die Ergebnisse der vom BMG initiierten Forschungsprojekte zur systematischen Erfassung der Betroffenen und zur wissenschaftliche Bewertung ihrer Leitlinien-gerechten Behandlung abzuwarten, um auf dieser Basis bewerten zu können, ob und ggf. in welchem Maße rechtliche Regelungen notwendig sind.