Das Bundesverfassungsgericht hat am 19.03.2020 zum Aktenzeichen 1 BvQ 1/20 entschieden, dass die Neuregelungen zur Nutzung von Daten gesetzlich Krankenversicherter in pseudonymisierter oder anonymisierter Form im Hinblick auf digitale Innovationen und für weitere Zwecke, unter anderem zur medizinischen Forschung, vorläufig in Kraft bleiben.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 29/2020 vom 30.04.2020 ergibt sich:
§ 68a Abs. 5 SGB V ermächtigt die gesetzlichen Krankenkassen dazu, versichertenbezogene Daten pseudonymisiert oder, sofern möglich, auch anonymisiert auszuwerten, um den Bedarf nach und mögliche Versorgungseffekte von digitalen Innovationen im Gesundheitsbereich zu evaluieren. Die §§ 303a ff. SGB V sollen die Nutzbarkeit bestimmter Gesundheitsdaten unter anderem für Forschungszwecke verbessern. Sie etablieren zu diesem Zweck ein Datentransparenzverfahren, in dem personenbezogene Daten der gesetzlich Versicherten wie Alter, Geschlecht oder Wohnort sowie bestimmte Gesundheitsdaten an den Spitzenverband Bund der Krankenkassen als Datensammelstelle übermittelt und von diesem anschließend an ein noch einzurichtendes Forschungsdatenzentrum weitergegeben werden. Dieser Vorgang wird von einem Pseudonymisierungsverfahren begleitet, wobei die Pseudonyme kassenübergreifend eindeutig einem bestimmten Versicherten zugeordnet werden. Das Forschungsdatenzentrum stellt den Nutzungsberechtigten auf Antrag die Datensätze grundsätzlich aggregiert und anonymisiert, gegebenenfalls aber auch pseudonymisiert oder in kleinen Fallzahlen zur Verfügung. Die Nutzungsberechtigten dürfen diese Daten unter anderem für die medizinische Forschung sowie für Planung, Analyse und Evaluation der Gesundheitsversorgung, aber auch zur Unterstützung politischer Entscheidungsprozesse und für Aufgaben der Gesundheitsberichterstattung nutzen. Das Gesetz sieht verschiedene Mechanismen zur Einhaltung des Datenschutzes seitens der Nutzungsberechtigten vor. Der gesetzlich versicherte Antragsteller leidet an einer seltenen Erbkrankheit und befürchtet, trotz Pseudo- oder Anonymisierung aus den Datensätzen reidentifiziert werden zu können. Weiter bringt er Bedenken bezüglich der IT-Sicherheit der Daten der gesetzlich Versicherten vor.
Das BVerfG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Nach Auffassung des BVerfG wirft das Verfahren schwierige verfassungsrechtliche Fragen auf, über die im Eilverfahren inhaltlich nicht entschieden werden kann. Das BVerfG hatte deshalb aufgrund summarischer Prüfung im Rahmen einer Folgenabwägung zu entscheiden und den für die Prüfung der vorläufigen Außerkraftsetzung eines Gesetzes geltenden strengen Maßstab anzuwenden. Die Nachteile, die sich aus einer vorläufigen Anwendung der Vorschriften ergeben, wenn sich das Gesetz im Nachhinein als verfassungswidrig erweise, sind nach Ansicht des BVerfG zwar von erheblichem Gewicht. Sie überwiegen aber nicht deutlich die Nachteile, die entstünden, wenn die Vorschriften außer Kraft treten, sich das Gesetz aber später als verfassungsgemäß erwiese.
Wesentliche Erwägungen des BVerfG:
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das BVerfG im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinde-rung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, wenn – wie hier – die Erfolgsaussichten offen erscheinen. Eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde wäre nach derzeitigem Stand weder offensichtlich unzulässig noch unbegründet, da aufgrund des sensiblen Charakters vieler erfasster Daten und deren flächendeckender Erhebung tiefe Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht verbunden sein können, deren Rechtfertigung durch die vom Gesetzgeber verfolgten Gemeinwohlziele nur unter näherer Prüfung der Ausgestaltung im Einzelnen möglich ist. Dass sich hier offene Fragen stellen, ergibt sich schon aus den im Gesetzgebungsverfahren vorgebrachten Bedenken der angehörten Sachverständigen wie auch seitens der Gesetzgebungsorgane. Ob diese durchgreifen, bedarf einer vertieften Betrachtung, die erst im Hauptsacheverfahren geleistet werden kann. Im Rahmen der daher gebotenen Folgenabwägung muss das BVerfG die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre. Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt, ist bei der Folgenabwägung ein besonders strenger Maßstab anzulegen. Das BVerfG darf von seiner Befugnis, den Vollzug eines in Kraft getretenen Gesetzes auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, da der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung stets ein erheblicher Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist. Müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe schon im Regelfall so schwer wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machen, so müssen sie im Fall der begehrten Außervollzugsetzung eines Gesetzes darüber hinaus besonderes Gewicht haben. Insoweit ist von entscheidender Bedeutung, ob die Nachteile irreversibel oder nur sehr erschwert revidierbar sind, um das Aussetzungsinteresse durchschlagen zu lassen.
Ausgehend von diesen Maßstäben scheidet eine Aussetzung des Vollzugs der verfahrensgegenständlichen Vorschriften aus.
Ergeht eine einstweilige Anordnung nicht, hätte die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde aber Erfolg, so würden die Daten des Antragstellers sowie aller weiteren gesetzlich Versicherten in Deutschland zu Unrecht für die gesetzlich vorgesehenen Zwecke genutzt. Darin liegt vor allem in Anbetracht des teils sensiblen und in hohem Maße persönlichkeitsrelevanten Charakters der genutzten Daten und der flächendeckenden Erhebung ein erheblicher Grundrechtseingriff. Ein persönlichkeitsrechtlich relevanter Nachteil tritt aber nicht unmittelbar durch den Vollzug der angegriffenen Vorschriften, sondern erst dann ein, wenn trotz Pseudonymisierung oder Anonymisierung durch die datenverarbeitenden Stellen ein Personenbezug zu bestimmten Versicherten hergestellt wird, was das Gesetz durch verschiedene Vorkehrungen gerade verhindern will. Auch ein vom Antragsteller befürchteter missbräuchlicher Zugriff Dritter auf diese Daten kann nicht mit hinreichender Sicherheit als unmittelbar bevorstehend angenommen werden. Im Hinblick auf zu Unrecht erhobene und gespeicherte Daten könnten gegenüber den Nutzungsberechtigten zudem Löschungsanordnungen ergehen, sodass der eingetretene Nachteil nicht irreversibel wäre.
Wird die begehrte einstweilige Anordnung hingegen erlassen, während einer künftigen Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren der Erfolg zu versagen wäre, hätte dies zur Folge, dass im Falle des § 68a Abs. 5 SGB V die Auswertung durch die Krankenkassen und im Falle der §§ 303a ff. SGB V die Übermittlung der genannten Daten an die Datensammelstelle vollständig unterblieben. Die Auswertung der ohnehin bereits bei den Krankenkassen vorhandenen Daten nach § 68a Abs. 5 SGB V wäre zwar grundsätzlich nachholbar, aber die vom Gesetzgeber bezweckte empirische Grundlage für eine Evaluation hinsichtlich digitaler Anwendungen stünde zeitlich erst später bereit, womit auch die Evaluation selbst erschwert würde. Im Falle der §§ 303a ff. SGB V stünden die zu übermittelnden Daten für die nutzungsberechtigten Akteure hingegen überhaupt nicht zentral abrufbar zur Verfügung, sodass sie nicht für wichtige gemeinwohlrelevante Belange wie für die medizinische Forschung genutzt werden könnten.
Angesichts dessen überwiegen die dem Antragsteller bei Nichtergehen einer einstweiligen Anordnung drohenden Nachteile nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit gegenüber den Nachteilen, die bei Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung trotz späterer Erfolglosigkeit einer noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde einzutreten drohen.