Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10. Dezember 2021 zum Aktenzeichen 2 BvQ 101/21 entschieden, dass die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Stadthagen vom 16. Juli 2019 – 11 Ds 505 Js 6723/18 (73/18) – wird bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag des Antragstellers vom 26. November 2021 gemäß § 458 Abs. 1 Strafprozessordnung – längstens für die Dauer von sechs Monaten (§ 32 Abs. 6 Satz 1 BVerfGG) – ausgesetzt wird.
Der Antragsteller wurde durch das Amtsgericht Stadthagen mit rechtskräftigem Urteil vom 16. Juli 2019 – 11 Ds 505 Js 6723/18 (73/18) – zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Strafe wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. In der Folge wurde er durch das vorgenannte Gericht mit Urteil vom 11. November 2021 – NZS 11 Ds 304 Js 8325/18 (72/19) – unter Einbeziehung der erstgenannten Verurteilung wegen weiterer Straftaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Am 18. November 2021 legte der Antragsteller gegen das Urteil vom 11. November 2021 ein unbenanntes Rechtsmittel ein. Die Staatsanwaltschaft Bückeburg ergriff gegen das Urteil hingegen kein Rechtsmittel.
Mit Schreiben vom 2. November 2021 lud die Staatsanwaltschaft Bückeburg den Antragsteller zum Strafantritt zur Vollstreckung des Urteils vom 16. Juli 2019. Am 12. November 2021 erließ die Staatsanwaltschaft einen Vollstreckungshaftbefehl. Der Antragsteller wurde daraufhin am 22. November 2021 von der Polizei festgenommen und am 23. November 2021 einer Justizvollzugsanstalt zugeführt.
Am 22. November 2021 beantragte der Bevollmächtigte des Antragstellers bei der Staatsanwaltschaft Bückeburg, den Vollstreckungshaftbefehl aufzuheben. Am 26. November 2021 reichte er dort ferner einen Antrag auf Einstellung der Vollstreckung gemäß § 458 Abs. 1 StPO verbunden mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 458 Abs. 3 StPO und der Aufforderung ein, eine Mehrfertigung des Antrags sofort dem zuständigen Gericht vorzulegen. Die Staatsanwaltschaft Bückeburg hielt mit Verfügung vom 26. November 2021 an der Vollstreckung des Urteils vom 16. Juli 2021 fest.
Mit Beschluss vom 8. Dezember 2021 lehnte die 1. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover den Antrag des Antragstellers, die Strafvollstreckung aus dem Urteil vom 16. Juli 2019 einzustellen und ihn aus der Justizvollzugsanstalt zu entlassen, ab. Durch die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nehme die Staatsanwaltschaft in keiner Weise Einfluss auf das Urteil vom 11. November 2021. Auch das Recht des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz sei in keiner Weise eingeschränkt, sondern der Rechtsmittelweg stehe ihm weiterhin offen.
Der Antragsteller begehrt mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die vorläufige Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil vom 16. Juli 2019 bis zur rechtskräftigen Entscheidung über seinen Antrag vom 26. November 2021 gemäß § 458 Abs. 1 StPO, hilfsweise bei gleichzeitiger Anordnung einer Meldeauflage. Er sieht sich durch die vorgenannte Strafvollstreckung in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre.
Die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde wäre weder von vornherein unzulässig (aa) noch offensichtlich unbegründet.
Dass der Zulässigkeit der noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde die fehlende Erschöpfung des Rechtsweges entgegenstünde (§ 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG), steht jedenfalls nicht von vornherein fest. Dem Beschwerdeführer droht durch die Strafvollstreckung ein schwerer, irreparabler Nachteil in Form des Entzugs seines Freiheitsrechts. Da nicht zweifelsfrei ersichtlich ist, dass ihm weitere erfolgsversprechende Rechtsschutzmöglichkeiten zur Abwendung dieses Nachteils zur Verfügung stehen, kann von der Unzulässigkeit einer noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde nicht mit der erforderlichen Offensichtlichkeit ausgegangen werden (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
Vor dem Hintergrund der Bedeutung des Freiheitsgrundrechts könnte die Strafvollstreckung aus dem Urteil vom 16. Juli 2019 einen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 2 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG darstellen, indem sie den Antragsteller unter einen grundrechtswidrigen Entscheidungsdruck setzen könnte, dass von ihm eingelegte Rechtsmittel gegen das Urteil vom 11. November 2021 zurückzunehmen, um die Strafvollstreckung zu beenden. Denn mangels Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Urteil vom 11. November 2021 durch die Staatsanwaltschaft findet das Verschlechterungsverbot gemäß §§ 331, 358 StPO Anwendung, das auch für die Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung gilt.
Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Stadthagen vom 16. Juli 2019 vollstreckt werden. Dies wäre ein erheblicher, irreparabler Eingriff in das besonders gewichtige Recht auf die Freiheit der Person. Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde später jedoch als unbegründet, wögen die damit verbundenen Nachteile deutlich weniger schwer. Zwar könnte dann die zur Vollstreckung ausstehende Freiheitsstrafe vorübergehend nicht vollstreckt werden. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass durch das Zurücktreten des öffentlichen Interesses an einer nachdrücklichen und beschleunigten Vollstreckung rechtskräftig verhängter Freiheitsstrafen im konkreten Fall ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre.