Der Koalitionsvertrag 2025 enthält umfangreiche arbeitsrechtliche Reformvorhaben, die nicht nur bestehende gesetzgeberische Versäumnisse korrigieren, sondern zugleich neue Impulse für die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen setzen. Im Fokus stehen dabei unter anderem die Flexibilisierung der Arbeitszeit, eine Weiterentwicklung des Mindestlohns, neue Tariftreuepflichten im öffentlichen Auftragswesen sowie der Abbau bürokratischer Hemmnisse zugunsten digitaler Verfahren. Die folgenden Punkte sind für die arbeitsrechtliche Praxis von besonderer Relevanz:
1. Arbeitszeitrecht: Wöchentliche Höchstarbeitszeit statt Tagesgrenze
Ein zentrales Vorhaben betrifft die Novellierung des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG). Die Koalition plant, die bisherige tägliche Höchstarbeitszeit von acht bzw. zehn Stunden (§ 3 ArbZG) durch ein Wochenmodell mit einer maximalen Arbeitszeit von 48 Stunden abzulösen – im Einklang mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Diese Neuregelung soll eine betriebsnähere und flexiblere Arbeitszeitgestaltung ermöglichen.
Bewertung:
Während Arbeitgeberverbände diese Flexibilisierung begrüßen, warnen Gewerkschaften vor gesundheitlichen Risiken durch verlängerte tägliche Arbeitszeiten. Die gesetzliche Ausgestaltung bleibt abzuwarten. Im Mittelpunkt wird dabei stehen, ob und wie Ruhezeiten, Erholungsphasen und arbeitsmedizinische Schutzvorgaben weiterhin wirksam garantiert werden können.
2. Arbeitszeiterfassung: Gesetzliche Klarstellung nach EuGH- und BAG-Rechtsprechung
Der Vertrag kündigt auch eine gesetzliche Neuregelung der Arbeitszeiterfassung an. Diese soll die unionsrechtlich gebotene Pflicht zur vollständigen Erfassung der täglichen Arbeitszeit umsetzen – eine Vorgabe, die der Europäische Gerichtshof bereits 2019 (Urt. v. 14.05.2019, Az. C-55/18) formuliert hatte und das Bundesarbeitsgericht 2022 (Urt. v. 13.09.2022, Az. 1 ABR 22/21) bestätigte.
Künftig soll eine elektronische und verlässliche Zeiterfassung verpflichtend werden. Vertrauensarbeitszeit soll unter bestimmten Voraussetzungen erhalten bleiben. Kleine und mittlere Unternehmen sollen von Übergangsregelungen profitieren.
Praxisfolgen:
Arbeitgeber sollten frühzeitig prüfen, ob und wie ihre bisherigen Zeiterfassungssysteme mit den künftigen Anforderungen kompatibel sind. Die gesetzliche Umsetzung könnte auch Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG neu akzentuieren.
3. Mindestlohn: Zielmarke 15 Euro – aber keine gesetzliche Fixierung
Die Koalitionsparteien bekennen sich zu einem Mindestlohn von 15 Euro bis 2026. Allerdings bleibt die Entscheidung weiterhin der Mindestlohnkommission vorbehalten. Neu ist: Diese soll sich künftig auch an dem Zielwert von 60 % des Medianlohns orientieren – ein Bezugspunkt, der aus der EU-Mindestlohnrichtlinie stammt.
Rechtliche Einordnung:
Ein verbindlicher gesetzlicher Automatismus ist nicht vorgesehen. Der politische Zielwert bleibt rechtlich unverbindlich. Verfassungsrechtliche Bedenken sind nicht ausgeschlossen, zumal eine zu enge politische Steuerung der Mindestlohnhöhe mit dem Grundsatz der Tarifautonomie kollidieren könnte (Art. 9 Abs. 3 GG).
4. Tariftreuegesetz auf Bundesebene
Ein Bundestariftreuegesetz soll künftig öffentliche Aufträge an die Einhaltung tarifvertraglicher Standards knüpfen. Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie bei Aufträgen des Bundes – ab einem Schwellenwert von 50.000 Euro, bei Start-ups ab 100.000 Euro – mindestens den branchenspezifischen Tariflohn zahlen müssen.
Zielsetzung:
Die Maßnahme soll Tarifflucht verhindern, den Wettbewerb fairer gestalten und die Tarifbindung stärken. Kritisch wird der zusätzliche Verwaltungsaufwand bewertet, insbesondere von kleineren Unternehmen.
5. Steuerfreiheit von Überstundenvergütung
Arbeitgeber sollen künftig steuerfreie Zuschläge für Überstunden zahlen dürfen – vorausgesetzt, diese gehen über die tariflich geregelte bzw. betriebsübliche Vollzeit (in der Regel 34 oder 40 Wochenstunden) hinaus.
Gleichstellungsrechtliche Problematik:
Teilzeitbeschäftigte – oft Frauen – sind von der Begünstigung ausgeschlossen. Es besteht das Risiko eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und einer mittelbaren Diskriminierung i.S.d. Art. 3 Abs. 2 GG sowie europarechtlicher Vorgaben (z. B. RL 2006/54/EG).
6. Bürokratieabbau und Digitalisierung des Arbeitsrechts
Die Koalition plant, gesetzliche Schriftformerfordernisse – insbesondere im Teilzeit– und Befristungsrecht (§ 14 Abs. 4 TzBfG) – zu reduzieren und digitale Verfahren zu fördern. Dazu gehört auch die Reform des Statusfeststellungsverfahrens zur Abgrenzung von Scheinselbstständigkeit, einschließlich einer geplanten Genehmigungsfiktion.
Digitalisierungsfortschritte betreffen auch:
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Online-Sitzungen von Betriebsräten und digitale Betriebsversammlungen (Änderung des BetrVG),
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Einführung von Online-Betriebsratswahlen,
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Etablierung einer „Work-and-Stay-Agentur“ zur Beschleunigung der Fachkräfteeinwanderung,
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Beibehaltung der telefonischen Krankschreibung mit Missbrauchsschutz.
7. Was fehlt: Schutz betrieblicher Mitbestimmung und sachgrundlose Befristung
Zentrale Forderungen aus dem gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Lager wurden nicht berücksichtigt:
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Die Erhebung der Behinderung von Betriebsratsarbeit (§ 119 BetrVG) zum Offizialdelikt bleibt aus.
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Der besondere Kündigungsschutz für Initiator:innen von Betriebsratswahlen wird nicht erweitert.
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Die sachgrundlose Befristung (§ 14 Abs. 2 TzBfG) bleibt erhalten.
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Ein arbeitsrechtliches Verbandsklagerecht ist nicht vorgesehen.
Konsequenz:
Der Schutz betrieblicher Interessenvertretungen bleibt lückenhaft. Auch die Planbarkeit von Arbeitsverhältnissen bleibt für viele Beschäftigte durch fortbestehende Befristungsoptionen eingeschränkt.
Fazit: Ein Kompromissprogramm mit Signalwirkung – aber vielen offenen Fragen
Der Koalitionsvertrag 2025 liefert einen arbeitsrechtlichen Fahrplan mit klarer Ausrichtung auf Flexibilisierung, Digitalisierung und tarifliche Absicherung. Die praktische Relevanz wird maßgeblich von der konkreten Ausgestaltung und Umsetzung der angekündigten Reformen abhängen. Arbeitgeber, Beschäftigte und ihre rechtlichen Berater:innen sind gut beraten, die Gesetzgebungsverfahren aufmerksam zu verfolgen und sich frühzeitig auf veränderte Rahmenbedingungen einzustellen.