Das Bundesverfassungsgericht hat am 10.12.2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 3214/15 hat die Regelung über die unmittelbare Nutzung der Antiterrordatei auch zur Generierung neuer Erkenntnisse aus den Querverbindungen der gespeicherten Datensätze (sogenanntes „Data-mining“) für verfassungswidrig erklärt.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 104/2020 vom 11.12.2020 ergibt sich:
Die Antiterrordatei ist eine der Bekämpfung des internationalen Terrorismus dienende Verbunddatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder. Im Regelfall erlaubt § 5 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a ATDG den berechtigten Behörden bei einer Abfrage zu Personen einen unmittelbaren Zugriff lediglich auf die in der Antiterrordatei zu ihrer Identifizierung gespeicherten Grunddaten wie Name, Geschlecht und Geburtsdatum (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a ATDG). Der Zugriff erstreckt sich − außer in Eilfällen und insoweit nur unter engen Voraussetzungen − nicht auch auf die in der Datei gespeicherten erweiterten Grunddaten (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ATDG) wie Bankverbindungen, Familienstand und Volkszugehörigkeit.
Der durch das Gesetz zur Änderung des Antiterrordateigesetzes und anderer Gesetze (ATDGuaÄndG) vom 18.12.2014 geschaffene § 6a ATDG ist zum 01.01.2015 in Kraft getreten. Diese Vorschrift ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen im Rahmen eines „Projekts“ die erweiterte Nutzung von in der Datei nach § 3 ATDG gespeicherten Datenarten. Nach § 4 ATDG verdeckt gespeicherte Daten sind davon ausgenommen. Die Absätze 1 bis 3 des § 6a ATDG unterscheiden danach, ob die erweiterte Nutzung im Rahmen eines bestimmten einzelfallbezogenen Projekts zur Sammlung und Auswertung von Informationen über eine internationale terroristische Bestrebung (Abs. 1), für die Verfolgung qualifizierter Straftaten des internationalen Terrorismus (Abs. 2 Satz 1) oder für die Verhinderung von qualifizierten Straftaten (Abs. 3 Satz 1) erfolgt.
In § 6a Abs. 5 ATDG definiert der Gesetzgeber den Begriff der erweiterten Nutzung. Hierunter ist das Herstellen von Zusammenhängen zwischen Personen, Personengruppierungen, Institutionen, Objekten und Sachen, der Ausschluss unbedeutender Informationen und Erkenntnisse, die Zuordnung eingehender Informationen zu bekannten Sachverhalten sowie die statistische Auswertung der gespeicherten Daten zu verstehen (Satz 1). Hierzu dürfen die beteiligten Behörden des Bundes Daten auch mittels phonetischer oder unvollständiger Daten, der Suche über eine Mehrzahl von Datenfeldern, der Verknüpfung von Personen, Institutionen, Organisationen, Sachen oder der zeitlichen Eingrenzung der Suchkriterien aus der Datei abfragen sowie räumliche und sonstige Beziehungen zwischen Personen und Zusammenhänge zwischen Personen, Personengruppierungen, Institutionen, Objekten und Sachen darstellen sowie die Suchkriterien gewichten (Satz 2). § 6a ATDG gestattet damit die unmittelbare Nutzung der Antiterrordatei auch zur Generierung neuer Erkenntnisse aus den Querverbindungen der gespeicherten Datensätze (sog. „Data-mining“).
Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde, die sich ausschließlich gegen § 6a ATDG richtet, eine Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).
Das BVerfG hat entschieden, dass § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG mit Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar und damit nichtig ist. Im Übrigen hat es die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.
Im Mittelpunkt des im Jahr 2006 in Kraft getretenen Antiterrordateigesetzes stand die Schaffung einer gemeinsamen Verbunddatei der Sicherheitsbehörden, die in ihrem Kern der Informationsanbahnung diente. Nachdem das BVerfG mit Urteil vom 24.04.2013 (1 BvR 1215/07 – BVerfGE 133, 277 „Antiterrordateigesetz I“) mehrere Vorschriften des Gesetzes für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hatte, änderte der Bundesgesetzgeber die vom BVerfG beanstandeten Vorschriften und ergänzte das Antiterrordateigesetz um die Vorschrift des § 6a ATDG („Erweiterte projektbezogene Datennutzung“). § 6a ATDG ermächtigt die Sicherheitsbehörden erstmalig zur so bezeichneten erweiterten Nutzung („Data-mining“) von in der Antiterrordatei gespeicherten Datenarten, und zwar − über die Informationsanbahnung hinaus − auch zur operativen Aufgabenwahrnehmung. § 6a ATDG gestattet damit die unmittelbare Nutzung der Antiterrordatei auch zur Generierung neuer Erkenntnisse aus den Querverbindungen der gespeicherten Datensätze. Dies war bisher nur in Eilfällen möglich.
Nach Auffassung des BVerfG verletzt die Regelung des § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Sie genüge nicht den besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen der hypothetischen Datenneuerhebung („informationelles Trennungsprinzip“). Aufgrund der gesteigerten Belastungswirkung einer erweiterten Nutzung einer Verbunddatei der Polizeibehörden und Nachrichtendienste müsse diese dem Schutz von besonders gewichtigen Rechtsgütern dienen und auf der Grundlage präzise bestimmter und normenklarer Regelungen an hinreichende Eingriffsschwellen gebunden sein. Diesen Anforderungen genüge § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG nicht, während § 6a ATDG im Übrigen diesen Erfordernissen entspreche.
Wesentliche Erwägungen des BVerfG:
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist teilweise begründet. § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG verstößt gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet.
- 6a Abs. 1 bis 3 ATDG greift in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein, indem er den beteiligten Behörden eine erweiterte Datennutzung der in der Datei nach § 3 ATDG gespeicherten Datenarten mit Ausnahme der nach § 4 ATDG verdeckt gespeicherten Daten erlaubt. Der Eingriff durch § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG ist nicht gerechtfertigt. Die Regelung ist unverhältnismäßig.
- Regelungen, die den Datenaustausch zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten ermöglichen, müssen den besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen der hypothetischen Datenneuerhebung genügen („informationelles Trennungsprinzip“). Welche Anforderungen an die Ausgestaltung einer Befugnis hinsichtlich Rechtsgüterschutz und Eingriffsschwelle im Einzelnen zu stellen sind, richtet sich nach der konkreten Belastungswirkung.
- Der erweiterten Datennutzung nach § 6a ATDG kommt eine gesteigerte Belastungswirkung zu. Vor diesem Hintergrund muss die Erzeugung neuer Erkenntnisse und Zusammenhänge durch Verknüpfung von in einer Datei gespeicherten Daten aus verschiedenen nachrichtendienstlichen und polizeilichen Quellen einem herausragenden öffentlichen Interesse dienen. Der Eingriff muss zudem an hinreichend konkretisierte Eingriffsschwellen für die erweiterte Nutzung zu Zwecken der Gefahrenabwehr, Strafverfolgung sowie der Aufgabenerfüllung von nicht operativ tätig werdenden Behörden wie den Nachrichtendiensten auf der Grundlage normenklarer Regelungen gebunden sein.
- a) Für die erweiterte Nutzung der Antiterrordatei zum Zwecke der Gefahrenabwehr muss wegen der Belastungswirkung eine wenigstens hinreichend konkretisierte Gefahr in dem Sinne gegeben sein, dass zumindest tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr vorliegen.
- b) Für die erweiterte Nutzung zur Informationsauswertung muss diese zur Aufklärung einer bestimmten, nachrichtendienstlich beobachtungsbedürftigen Aktion oder Gruppierung im Einzelfall geboten sein; damit wird ein wenigstens der Art nach konkretisiertes und absehbares Geschehen vorausgesetzt.
- c) Für die erweiterte Nutzung zur Verfolgung einer Straftat muss ein durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht vorliegen, für den konkrete und verdichtete Umstände als Tatsachenbasis vorhanden sind.
- Diesen Anforderungen wird § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG nicht gerecht. Zwar lässt die Vorschrift die erweiterte Nutzung nur zum Schutz von Rechtsgütern zu, die besonders gewichtig sind. Der Befugnis nach § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG fehlt jedoch eine hinreichend qualifizierte Eingriffsschwelle. § 6a Abs. 2 Satz 1 ATD lässt die „Erforderlichkeit im Einzelfall“ zur Aufklärung „weitere[r] Zusammenhänge des Einzelfalls“ genügen. § 6a Abs. 2 ATDG bestimmt nicht normenklar, dass für die erweiterte Nutzung zum Zwecke der Strafverfolgung als Tatsachenbasis ein vom strafprozessualen Anfangsverdacht verschiedener verdichteter Tatverdacht erforderlich ist. Auch die Bindung an ein Projekt im Sinne des § 6a Abs. 4 ATDG ändert nichts an der verfassungsrechtlichen Unzulänglichkeit der in § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG genannten Eingriffsvoraussetzungen, weil auch in Absatz 4 keine hinreichende Eingriffsschwelle normiert wird.
- Dagegen erweisen sich § 6a Abs. 1 und 3 ATDG als verfassungsgemäß. Den Bestimmungen sind im Wege der Auslegung hinreichend normenklar geregelte Eingriffsschwellen zu entnehmen, welche den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. § 6a Abs. 3 Satz 1 ATDG darf allerdings nicht so verstanden werden, als erlaubte die Bestimmung die erweiterte Nutzung für eine bloße Vor- oder Umfeldermittlung ohne Bezug zu einer zumindest konkretisierten Gefahr. Bei einer solchen Lesart wäre § 6a Abs. 3 Satz 1 ATDG verfassungswidrig.
- Auch die in § 6a Abs. 7 und 8 ATDG normierten Anforderungen an individuellen Rechtsschutz und aufsichtliche Kontrolle sind mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar.