Der Europäische Gerichtshof hat am 02.09.2021 zum Aktenzeichen C-350/20 entschieden, dass Drittstaatsangehörige im Besitz einer kombinierten Arbeitserlaubnis, die gemäß den italienischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung einer Unionsrichtlinie erteilt wurde, Anspruch auf die Gewährung einer Geburtsbeihilfe und einer Mutterschaftsbeihilfe, wie sie in den italienischen Rechtsvorschriften vorgesehen sind, haben.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 148/2021 vom 02.09.2021 ergibt sich:
Die italienischen Behörden verweigerten mehreren Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in Italien aufhielten und im Besitz einer kombinierten Arbeitserlaubnis nach den italienischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2011/981 waren, die Gewährung einer Geburtsbeihilfe und einer Mutterschaftsbeihilfe. Diese Weigerung wurde damit begründet, dass diese Personen entgegen den im Gesetz Nr. 190/2014 und dem Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 151/2010 vorgesehenen Anforderungen nicht die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten hätten.
Nach dem Gesetz Nr. 190/2014, mit dem eine Geburtsbeihilfe für jedes geborene oder adoptierte Kind eingeführt wurde, wird die Beihilfe monatlich an italienische Staatsangehörige, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörige gewährt, die im Besitz einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung sind, um die Geburtenrate zu erhöhen und zu den Kosten ihrer Förderung beizutragen. Mit dem Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 151/2001 wurde die Mutterschaftsbeihilfe für jedes ab dem 1. Januar 2001 geborene Kind oder für alle Minderjährigen gewährt, die an in Italien wohnhafte Frauen, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats oder eines anderen Mitgliedstaats der Union oder Inhaberinnen einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung sind, in adoptionsvorbereitende Betreuung gegeben oder adoptiert worden sind.
Die betroffenen Drittstaatsangehörigen fochten die Versagung bei den italienischen Gerichten an. Im Rahmen dieser Rechtsstreitigkeiten befasste die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) aus der Erwägung, dass die Regelung zur Geburtsbeihilfe u. a. gegen mehrere Bestimmungen der italienischen Verfassung verstoße, die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) mit Fragen zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes Nr. 190/2014, soweit darin die Gewährung der Geburtsbeihilfe an Drittstaatsangehörige unter die Bedingung gestellt wird, dass sie die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzen. Mit der gleichen Begründung wurde der Verfassungsgerichtshof mit einer Frage zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 151/2001 in Bezug auf die Mutterschaftsbeihilfe befasst.
Da die Corte costituzionale der Ansicht ist, dass das Verbot willkürlicher Diskriminierungen sowie der Mutter- und Kinderschutz, die durch die italienische Verfassung garantiert seien, unter Beachtung der zwingenden Vorgaben des Unionsrechts auszulegen seien, hat sie den Gerichtshof um Klarstellung der Tragweite des in Art. 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Rechts auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit sowie des in Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98 Drittstaatsarbeitnehmern2 gewährten Rechts auf Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit ersucht.
In seinem Urteil bestätigt der EuGH das Recht von Drittstaatsangehörigen, die im Besitz einer kombinierten Erlaubnis sind, gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98 eine Geburtsbeihilfe und eine Mutterschaftsbeihilfe wie die in den italienischen Rechtsvorschriften vorgesehenen in Anspruch zu nehmen.
Würdigung durch den Gerichtshof
Als Erstes stellt der Gerichtshof klar, dass die Frage der Vereinbarkeit der italienischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht allein anhand der Richtlinie 2011/98 zu prüfen ist, da Art. 12 Abs. 1 Buchst. e dieser Richtlinie das Recht auf Zugang zu den in Art. 34 Abs. 1 und 2 der Charta der Grundrechte genannten Leistungen der sozialen Sicherheit konkretisiert.
Da der Anwendungsbereich dieser Bestimmung der Richtlinie, die auf die Verordnung Nr. 883/20043 verweist, durch Letztere bestimmt wird, prüft der Gerichtshof als Zweites, ob die Geburtsbeihilfe und die Mutterschaftsbeihilfe, die in Rede stehen, Leistungen darstellen, die zu den in Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung aufgezählten Zweigen der sozialen Sicherheit gehören.
Zur Geburtsbeihilfe stellt der Gerichtshof fest, dass diese Beihilfe unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers automatisch an Haushalte gewährt wird, die bestimmten objektiven, gesetzlich definierten Kriterien entsprechen. Es handelt sich um eine Geldleistung, die dazu bestimmt ist, im Wege eines staatlichen Beitrags zum Familienbudget die Kosten für den Unterhalt eines Neugeborenen oder eines adoptierten Kindes zu verringern. Der Gerichtshof schließt daraus, dass diese Beihilfe eine Familienleistung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 darstellt.
Zur Mutterschaftsbeihilfe weist der Gerichtshof darauf hin, dass diese – abgesehen davon, dass sie bei einem an ein Arbeitsverhältnis oder die Ausübung eines freien Berufs anknüpfenden Mutterschaftsgeld nicht gewährt wird – unter Berücksichtigung des Einkommens des Haushalts, dem die Mutter angehört, auf der Grundlage eines objektiven, gesetzlich definierten Kriteriums, nämlich des Indikators für die wirtschaftliche Situation, gewährt oder versagt wird, ohne dass die zuständige Behörde andere persönliche Umstände berücksichtigen darf. Diese Beihilfe bezieht sich außerdem auf den in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 genannten Zweig der sozialen Sicherheit.
Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass die Geburtsbeihilfe und die Mutterschaftsbeihilfe unter die Zweige der sozialen Sicherheit fallen, für die den in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b und c der Richtlinie 2011/98 genannten Drittstaatsangehörigen das von dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung zusteht.
Da Italien von der den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie eingeräumten Möglichkeit, die Gleichbehandlung zu beschränken4, keinen Gebrauch gemacht hat, geht der Gerichtshof davon aus, dass die nationalen Rechtsvorschriften, die diese Drittstaatsangehörigen von der Gewährung der Beihilfen ausschließen, nicht mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie vereinbar sind.