Der 36jährige Kläger K leidet seit seiner Kindheit an ADHS. Mit 13 Jahren setzte er die Behandlung mit Ritalin ab und raucht seitdem Cannabis. Im Mai 2020 beantragte er bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für eine Behandlung mit Cannabisblüten. In einer beigefügten Stellungnahme führte der behandelnde Psychiater aus, mit Cannabisblüten sollten die ADHS sowie eine mittlere Depression behandelt werden. Es liege eine schwerwiegende Erkrankung vor. Ohne die bereits durchgeführte fortlaufende Therapie mit Cannabis wäre die Bewältigung des Alltags nicht möglich. Neben der Cannabis-Therapie werde eine Gesprächstherapie durchgeführt. K habe durch die Zwangseinnahme von Ritalin eine Abneigung gegen jegliche Einnahme von Tabletten (Tablettenphobie) entwickelt. Aus nervenärztlicher Sicht werde die Behandlung mit Cannabis befürwortet. K profitiere von Cannabis bereits die letzten 20 Jahre. Das Problem sei nur die Illegalität seiner Therapie, die ihn allein in diesem Jahr schon 3.000 € gekostet habe.
Die beklagte Krankenkasse lehnte den Antrag nach Einholung eines Gutachtens beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) ab: Es fehle bereits an einer schwerwiegenden Erkrankung. Nach der aktuellen, interdisziplinären S3-Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ solle Cannabis nicht zur Behandlung von ADHS eingesetzt werden. Der Kläger sei auf weitere verfügbare psychopharmakologische und -therapeutische Therapien zu verweisen.
Widerspruch und Klage des K blieben erfolglos. Der 11. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg hat die Berufung des K zurückgewiesen: K habe keinen Anspruch auf Versorgung mit den begehrten Cannabis-Blüten. Eine schwerwiegende Erkrankung liege nicht nachweislich vor. Hierunter fielen nur solche, die sich durch ihre Schwere vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebten, also lebensbedrohlich oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigten. Dies sei hier nicht der Fall. So habe der behandelnde Facharzt das Auftreten des K als völlig adäquat, ruhig und reflektiert ohne nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität beschrieben. Im Übrigen stünden dem K zur Behandlung seiner ADHS und Depressionen allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen wie Psychopharmaka und Psychotherapie zur Verfügung. Auch die behandelnden Fachärzte des K behaupteten nicht, dass es keine alternativen Therapien gebe. Ob tatsächlich eine „Tablettenphobie“ vorliege, sei fachärztlicherseits offensichtlich weder hinterfragt noch überprüft worden. Es fehle auch an einer Auseinandersetzung mit der Frage, ob nicht die psychischen Probleme im Zusammenhang mit der Tabletteneinnahme mittels Psycho- bzw. Verhaltenstherapie behandelbar wären. Vor allem aber habe sich der behandelnde Arzt nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob nach über 20 Jahren Cannabiskonsum zwischenzeitlich eine Sucht vorliege, die als Kontraindikation abzuklären und auszuschließen wäre. Eine erforderliche „begründete Einschätzung“ des behandelnden Arztes liege daher nicht vor. Deshalb komme es hier nicht mehr darauf an, ob der Anspruch auf Versorgung mit Cannabis auch daran scheitere, dass die gesundheitlichen Risiken und Konsequenzen den tatsächlichen Nutzen von Cannabis zur Minderung der ADHS-Symptomatik nach aktuellem Kenntnisstand überwögen und ob eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehe.
Hinweis zur Rechtslage:
Nach § 31 Abs. 6 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.