Angemessene Entschädigung für Opfer von Gewalttaten

Der Europäische Gerichtshof hat am 16.07.2020 zum Aktenzeichen C-129/19 entschieden, dass die Mitgliedstaaten allen Opfern einer vorsätzlichen Gewalttat Entschädigung gewähren müssen, und zwar auch denen, die in ihrem eigenen Hoheitsgebiet wohnen.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 94/2020 vom 16.07.2020 ergibt sich:

Die Entschädigung müsse den Schaden nicht vollständig wiedergutmachen, dürfe aber nicht rein symbolisch sein, so der EuGH.

Im vorliegenden Fall wurde BV, eine in Italien wohnhafte italienische Staatsangehörige, im Oktober 2005 Opfer auf italienischem Staatsgebiet begangener sexueller Gewalt. Die 50.000 Euro Schadensersatz, zu deren Zahlung an sie die Täter verurteilt worden waren, konnten wegen deren Flucht jedoch nicht an sie gezahlt werden. Im Februar 2009 verklagte BV die Presidenza del Consiglio dei Ministri (Präsidium des Ministerrats, Italien) auf Wiedergutmachung des Schadens, den sie wegen der nicht rechtzeitigen Umsetzung der Richtlinie 2004/80 durch Italien erlitten haben soll. In diesem Verfahren wurde die Presidenza del Consiglio dei Ministri in erster Instanz verurteilt, an BV 90.000 Euro zu zahlen, wobei dieser Betrag in der Berufungsinstanz auf 50.000 Euro herabgesetzt wurde.
Das mit einer von der Presidenza del Consiglio dei Ministri eingelegten Kassationsbeschwerde befasste vorlegende Gericht fragte sich zum einen, ob die Regelung über die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats auf Opfer vorsätzlicher Gewalttaten, die sich nicht in einer grenzüberschreitenden Situation befinden, wegen der verspäteten Umsetzung der Richtlinie 2004/80 (ABl. 2004, L 261, 15) durch diesen Mitgliedstaat anwendbar ist. Zum anderen hatte es Zweifel, ob der von der italienischen Regelung (Es ist darauf hinzuweisen, dass Italien nach der Erhebung der vorliegenden Klage aus außervertraglicher Haftung gegen sie eine Regelung zur Entschädigung von Opfern im italienischen Staatsgebiet begangener vorsätzlicher Gewalttaten – unabhängig davon, ob sie in Italien wohnen oder nicht – eingeführt hat. Diese Regelung erfasst rückwirkend auch Straftaten dieser Art, die ab dem 01.07.2005 begangen wurden.) über die Entschädigung von Opfern sexueller Gewalt vorgesehene Pauschalbetrag „gerecht und angemessen“ i.S.v. Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 ist.

Der EuGH hat erstens entschieden, dass die Regelung über die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats für den Schaden, der durch den Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden ist, mit der Begründung, dass dieser Mitgliedstaat die Richtlinie 2004/80 nicht rechtzeitig umgesetzt hat, auf Opfer mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, in dem auch die vorsätzliche Gewalttat begangen wurde, anwendbar ist. Zweitens hat der EuGH entschieden, dass eine pauschale Entschädigung, die Opfern sexueller Gewalt gemäß einer nationalen Regelung für die Entschädigung von Opfern vorsätzlicher Gewalttaten gewährt wird, nicht als „gerecht und angemessen“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn sie festgelegt wird, ohne die Schwere der Folgen der begangenen Tat für die Opfer zu berücksichtigen, und daher keinen adäquaten Beitrag zur Wiedergutmachung des erlittenen materiellen und immateriellen Schadens darstellt.

Der EuGH hat in Bezug auf die erste Frage zunächst auf die Voraussetzungen hingewiesen, anhand deren die Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, festgestellt werden kann, nämlich dass die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen worden ist, Einzelnen Rechte verleiht, dass der Verstoß gegen diese Norm hinreichend qualifiziert ist und dass zwischen diesem Verstoß und dem den Einzelnen entstandenen Schaden ein Kausalzusammenhang besteht. Im vorliegenden Fall sei unter Berücksichtigung des Wortlauts von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80, ihres Kontexts und ihrer Ziele u.a. festzustellen, dass sich der Unionsgesetzgeber mit dieser Bestimmung nicht für die Einführung einer speziellen Entschädigungsregelung durch jeden Mitgliedstaat, die nur auf die Opfer von vorsätzlichen Gewalttaten in einem grenzüberschreitenden Fall beschränkt sei, entschieden habe, sondern für die Anwendung nationaler Regelungen für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten. Nach Abschluss seiner Prüfung hat der EuGH entschieden, dass die Richtlinie 2004/80 jedem Mitgliedstaat die Pflicht auferlegt, eine Regelung für die Entschädigung aller Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten einzuführen, und nicht nur der Opfer in einem grenzüberschreitenden Fall. Daraus sei zu schließen, dass die Richtlinie 2004/80 das Recht, eine gerechte und angemessene Entschädigung zu erhalten, nicht nur den Opfern vorsätzlich begangener Gewalttaten verleihe, die sich in einer solchen Situation befinden, sondern auch den Opfern, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats haben, in dem die Tat begangen wurde. Sofern die beiden weiteren genannten Voraussetzungen erfüllt seien, habe daher der Einzelne Anspruch auf Entschädigung für die Schäden, die ihm durch den Verstoß eines Mitgliedstaats gegen seine sich aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 ergebende Pflicht entstanden seien, und zwar unabhängig von der Frage, ob er sich zu dem Zeitpunkt, zu dem er Opfer der fraglichen Tat wurde, in einer solchen grenzüberschreitenden Situation befand.

In Bezug auf die zweite Frage hat der EuGH festgestellt, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80, da er zur Höhe der Entschädigung, die einer „gerechten und angemessen“ Entschädigung entsprechen soll, keine Angaben macht, den Mitgliedstaaten insoweit ein Ermessen einräumt. Die Entschädigung müsse zwar nicht unbedingt eine vollständige Wiedergutmachung des von den Opfern vorsätzlicher Gewalttaten erlittenen materiellen und immateriellen Schadens sicherstellen, sie dürfe jedoch in Anbetracht der Schwere der Folgen der begangenen Tat für diese Opfer nicht rein symbolisch oder offensichtlich unzureichend sein. Die solchen Opfern gemäß dieser Bestimmung gewährte Entschädigung müsse nämlich in adäquatem Umfang das Leid ausgleichen, dem sie ausgesetzt waren. Hierzu hat der EuGH ebenfalls klargestellt, dass eine pauschale Entschädigung solcher Opfer als „gerecht und angemessen“ eingestuft werden kann, sofern die Entschädigungstabelle hinreichend detailliert ist, um so zu verhindern, dass sich eine für eine bestimmte Art von Gewalt vorgesehene pauschale Entschädigung in Anbetracht der Umstände eines Einzelfalls als offensichtlich unzureichend erweist.