Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 04.05.2020 zum Aktenzeichen 2 BvE 1/20 einen Eilantrag der AfD-Bundestagsfraktion gegen die Abwahl ihres Abgeordneten Stephan Brandner vom Vorsitz des Rechtsausschusses abgelehnt.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 42/2020 vom 29.05.2020 ergibt sich:
Diese hatte beantragt, mittels einstweiliger Anordnung zu ermöglichen, dass der von ihr entsandte Abgeordnete Brandner seine Rechte und Pflichten als Vorsitzender des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages (Rechtsausschuss) vorübergehend wieder effektiv wahrnehmen kann. Der Abgeordnete war durch die Ausschussmehrheit als Vorsitzender abgewählt worden, nachdem er vor allem durch Twitter-Beiträge öffentliche Empörung hervorgerufen hatte. Das BVerfG hat im Wege der Folgenabwägung entschieden. Danach liegen bei Anlegung der für das Organstreitverfahren geltenden strengen Maßstäbe keine Umstände vor, die den Erlass der einstweiligen Anordnung als dringend geboten erscheinen lassen.
Der Abgeordnete Brandner war auf Vorschlag der AfD-Fraktion, der nach einer Vereinbarung im Ältestenrat der Vorsitz im Rechtsausschuss zusteht, zu dessen Vorsitzenden gewählt worden. Nachdem er vor allem durch einen weitergeleiteten fremden Beitrag sowie durch eigene Beiträge auf dem Kurznachrichtendienst „Twitter“ öffentliche Empörung hervorgerufen hatte, beschloss der Rechtsausschuss auf Antrag der Obleute aller übrigen Fraktionen am 13.11.2019 mit 37 Ja-Stimmen gegen sechs Nein-Stimmen seine Abberufung. Seither übernimmt der stellvertretende Ausschussvorsitzende, Prof. Dr. Hirte (CDU/CSU), die Leitung des Rechtsausschusses.
Im Wege des Organstreitverfahrens beantragt die AfD-Fraktion festzustellen, dass:
a) der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz sowie der Deutsche Bundestag dadurch gegen ihre Rechte verstoßen haben, dass der Rechtsausschuss den von der Antragstellerin entsandten Abgeordneten Brandner als Ausschussvorsitzenden durch Mehrheitsbeschluss „abgewählt“ hat und
b) dass der Deutsche Bundestag dadurch gegen ihre Rechte verstößt, dass er es dem von der Antragstellerin entsandten Abgeordneten Brandner unmöglich macht, seine Rechte und Pflichten als Vorsitzender des Rechtsausschusses tatsächlich wahrzunehmen.
Wesentliche Erwägungen des BVerfG:
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das BVerfG im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren bedeutet einen erheblichen Eingriff des BVerfG in Autonomie und originäre Zuständigkeit anderer Verfassungsorgane. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ist daher grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. Bei der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das BVerfG die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn einerseits eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte, und andererseits die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre.
Der Hauptantrag zu b) ist unzulässig. Er genügt nicht den Begründungsanforderungen des § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG.
Der Hauptantrag zu a) ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die Fraktionen im Deutschen Bundestag haben ein aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG abgeleitetes Recht auf gleiche Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung. Es gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen, der sich auf die Mitwirkungsbefugnis der Abgeordneten in den Ausschüssen erstreckt. Grundsätzlich muss jeder Ausschuss ein verkleinertes Abbild des Plenums sein. Dies erfordert eine möglichst getreue Abbildung der Stärke der Fraktionen. Zwar hält sich nach der Rechtsprechung des Senats gerade die Beschränkung der Vergabe von Vorsitzen in Ausschüssen durch die Geschäftsordnung des Bundestages im Rahmen der Geschäftsordnungsautonomie. Hier geht es aber nicht um die Verweigerung eines Ausschussvorsitzes durch die Geschäftsordnung selbst, sondern um einen Posten, der der Antragstellerin nach dieser grundsätzlich zusteht. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ausgeschlossen, dass Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG der Fraktion hier ein verfassungsrechtliches Teilhaberecht verleiht, das durch die Abberufung beeinträchtigt sein könnte.
Nicht eindeutig ist auch die Rechtslage hinsichtlich des von der Antragstellerin als verletzt gerügten Grundsatzes der effektiven Opposition. Dieser wurzelt im Demokratieprinzip. Aus dem Mehrheitsprinzip nach Art. 42 Abs. 2 GG und den im Grundgesetz vorgesehenen parlamentarischen Minderheitenrechten folgen der Respekt vor der Sachentscheidung der parlamentarischen Mehrheit und die Gewährleistung einer realistischen Chance der parlamentarischen Minderheit, zur Mehrheit zu werden.
Dahinter steht die Idee eines offenen Wettbewerbs der unterschiedlichen politischen Kräfte, welcher namentlich voraussetzt, dass die Opposition nicht behindert wird. Demgemäß ist die Bildung und Ausübung einer organisierten politischen Opposition konstitutiv für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Damit die parlamentarische Opposition ihre Kontrollfunktion erfüllen kann, müssen die im Grundgesetz vorgesehenen Minderheitenrechte auf Wirksamkeit hin ausgelegt werden. Eine effektive Opposition darf dabei nicht auf das Wohlwollen der Parlamentsmehrheit angewiesen sein. Denn die Kontrollbefugnisse sind der parlamentarischen Opposition nicht nur in ihrem eigenen Interesse, sondern in erster Linie im Interesse des demokratischen, gewaltengegliederten Staates in die Hand gegeben. Der Grundsatz der Gewaltenteilung im parlamentarischen Regierungssystem gewährleistet daher die praktische Ausübbarkeit der parlamentarischen Kontrolle gerade auch durch die parlamentarische Opposition. Dass die Besetzung eines Ausschussvorsitzes als Kontrollrecht in diesem Sinne aufzufassen ist, ist nicht von vornherein ausgeschlossen.
Die Frage, ob eine Beeinträchtigung der vorgenannten Rechtspositionen vorliegend überhaupt und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden könnte, ist nicht ohne Weiteres zu beantworten.
Die wegen des offenen Verfahrensausgangs zu treffende Interessenabwägung führt zur Ablehnung des Antrags.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, hätte der Antrag aber letztlich Erfolg, wäre der Abgeordnete Brandner bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Hauptsacheverfahrens daran gehindert, das ihm rechtlich zustehende Amt des Ausschussvorsitzenden auszuüben. Zwar würde das BVerfG den Beschluss nicht aufheben, da im Organstreitverfahren lediglich die Feststellung eines die Antragstellerin beeinträchtigenden Verfassungsverstoßes begehrt werden kann. Die Antragsgegner wären aber verpflichtet, dem Abgeordneten Brandner in diesem Fall die Wahrnehmung der Befugnisse eines Ausschussvorsitzenden wieder zu ermöglichen.
Allerdings ist Gegenstand des Verfahrens nicht die Rechtsposition eines einzelnen Abgeordneten, sondern die der Antragstellerin als Bundestagsfraktion. Vor diesem Hintergrund hat die Antragstellerin die Möglichkeit, ihre derzeitige Beeinträchtigung durch die Benennung eines anderen Kandidaten für den Vorsitz des Rechtsausschusses selbst zu verringern. Die Ausschussmitglieder der übrigen Fraktionen haben zugesagt, eine andere Person in dieser Position billigen zu wollen. Es besteht derzeit kein Grund, die Ernsthaftigkeit der von der Ausschussmehrheit abgegebenen Zusage in Frage zu stellen. Die Präsentation eines anderen Ausschussvorsitzenden durch die Antragstellerin würde deren Beeinträchtigung zwar nicht vollends beseitigen. Das Interesse der Fraktionen, nicht irgendwelche – den Mehrheitsfraktionen womöglich genehmere – Persönlichkeiten auf für sie wichtige Stellen zu positionieren, erscheint nachvollziehbar. Dass die Antragstellerin aber, wie sie selbst vorträgt, an der Erfüllung ihrer Oppositionsaufgaben vollständig gehindert wäre, trifft nicht zu.
Würde die einstweilige Anordnung demgegenüber erlassen und erwiese sich der verfahrensgegenständliche Beschluss später als verfassungsgemäß, würde der Rechtsausschuss bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens weiterhin von einer Person geleitet, die das Vertrauen der Ausschussmehrheit offensichtlich nicht besitzt. Dies gefährdete die Arbeitsfähigkeit des Ausschusses. Zudem griffe der Eilbeschluss in das von Art. 40 Abs. 1 GG garantierte Selbstbestimmungsrecht des Bundestages ein, wozu das BVerfG nur unter strengen Voraussetzungen im Eilverfahren befugt ist.